In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang. Werner Hetzschold

In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang - Werner Hetzschold


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      Werner Hetzschold

       IN DEN MEYERSCHEN NAHM ALLES SEINEN ANFANG

      Engelsdorfer Verlag

      Leipzig

      2021

      Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

       Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

      Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

      Alle Rechte beim Autor

      Coverbild: Die Meyerschen Häuser in Leipzig

      nach einer Postkarte um 1915

      Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

       www.engelsdorfer-verlag.de

       INHALT

       Cover

       Titel

       Impressum

       Die Blaue Blume

       Irgendwann, irgendwer, irgendwo

       Hannah

       Montmartre

       Beute-Germane

       Das Blaue Halstuch

       Mysteriöse Stadt

       Dichter und andere Lebenskünstler

       Der schöne Biber

       DIE BLAUE BLUME

      Als Jan ein kleiner Junge war, durfte er seine Mutter oft auf ihren Spaziergängen begleiten. Gewöhnlich führte sie ihr Weg am Bahndamm entlang, der die Grenze bildete zwischen dem Areal der Deutschen Reichsbahn und den Meyerschen Häusern. Ein breiter, asphaltierter Fußweg, auf dem auch Lastkraftwagen im Schritt-Tempo fahren durften, trennte den Bahndamm von den Häusern. Zwischen Bahndamm und Fußweg befanden sich winzige Gärten, wie auf einer Perlenschnur an einander gereiht. In jedem Garten stand eine solide Holzlaube und ein alter Apfelbaum. Zu dem Zeitpunkt war diese Siedlung bereits älter als sechzig Jahre.

      Seine Mutter ergriff seine Hand. Gemeinsam folgten sie dem Weg bis zum Ende der Siedlung. Immer wieder blieb seine Mutter stehen, machte ihn auf die wenigen bunten Blumen aufmerksam, auf das viele unterschiedliche Gemüse und die Beerensträucher. Manche der Gartenbesitzer waren Eisenbahner. Sie hatten von der Deutschen Reichsbahn die Erlaubnis bekommen, einen schmalen Streifen des unmittelbar auf ihren Garten sich anschließenden Bahn-Geländes nutzen und einzäunen zu dürfen. Auf diesem eingefriedeten Reichsbahngelände tummelten sich Hühner, Tauben, mitunter auch Enten. Die Holzlauben waren mit Kaninchenställen vollgestopft. Besonders in der warmen Jahreszeit bot dieses Areal ein friedliches, harmonisches und abwechslungsreiches Bild, das ein Bisschen an Ferien auf dem Bauernhof erinnerte. Vielleicht förderten die vorbei fahrenden Personenzüge diesen Eindruck von dieser heilen Welt. Mutter blieb in regelmäßigen Abständen stehen, klatschte verzückt in die Hände und rief laut und euphorisch aus: „Jan, mein Junge, das ist das Paradies auf Erden! Schau dir diesen blauen Himmel an! Kein Wölkchen ist zu sehen. Die Sonne strahlt. Das ist das Paradies! Alles grünt und blüht! Schau dir einmal diese blauen Blumen an. Ich kenne ihren Namen nicht, aber sie sind wunderhübsch. Dieses Blau könnte nicht schöner sein! Warum in die weite Welt reisen, wenn die Schönheit der Natur sich unmittelbar vor der eigenen Haustür entfaltet!“

      Jan warf einen flüchtigen Blick auf die blauen Blumen, die in seinen Augen Unkraut waren, weil sie nicht die Bedeutung und den Bekanntheitsgrad von Tulpen und Rosen hatten. Sie waren einfach nur da. Waren nutzlos wie Unkraut! Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

      Hatten Mutter und Sohn das Meyersche Viertel hinter sich gelassen, folgten sie dem Weg bis zur Bus-Endstation. Dort, wo früher Wohnhäuser gestanden hatten, die während des Krieges dem Erdboden gleichgemacht worden waren, breiteten sich jetzt Gärten aus. Jede noch so kleine Fläche wurde als Grabe-Land genutzt. Kein Land blieb brach liegen. Jedes Stückchen Erde wurde um und um gewendet, kultiviert, verwandelte sich in ein grünes Paradies. Damals gab es noch viele Pferdegespanne. Die Brauerei und die Müll-Abfuhr besaßen einen Fuhrpark, bestehend nur aus Pferdegespannen. Lastkraftwagen konnte sich noch nicht jeder Unternehmer leisten. Die anfallenden Pferdeäpfel waren äußerst begehrt. Dünger war knapp. Nichts wurde weggeworfen. Alles wurde verwendet, verwertet, fand einen Abnehmer.

      Mutter wählte den Weg zum Ost-Friedhof. Wie der Südfriedhof erinnerte auch der Ostfriedhof Jan an einen weiträumigen Park mit vielen bunten Blumen, Wiesen und Hecken, in denen ungestört viele Vögel brüteten. Die Gräber fielen zwischen dem vielen Grün gar nicht auf, weil sie meist auch grün waren. Auf dem Weg zum Ost-Friedhof pflückte Mutter Blumen von den Wiesen rechts und links der Straße, die dort wild wuchsen, ursprünglich aber einmal Gartenblumen gewesen waren. Der Gartenbesitzer wollte sie nicht länger auf seinem Grundstück dulden, hatten die Zwiebeln ausgegraben, fand keinen Käufer für sie, entsorgte sie heimlich auf den Wiesen. Jetzt blühten viele unterschiedliche bunte Blumen dort im Frühling, im Sommer und im Herbst. Die Winter waren kalt und blumenlos. Mutters Blumensträuße erregten immer wieder die Aufmerksamkeit, weil sie so schön bunt waren. Auch dufteten sie angenehm. Sie waren eine richtige Augenweide, ein Vergnügen, ein Genuss für die Sinne. Mit diesem Blumenschmuck verschwanden Mutter und Sohn hinter dem Friedhofstor. Mutter kannte den Weg. Jan folgte ihr. Auch er kannte den Weg, war ihn schon viele Male gegangen. Mutter wählte jedes Mal andere Weg. Der Weg zum Friedhof sollte ein Spaziergang sein, kein Pflichtprogramm, kein Gang auf dem schnellsten Wege.

      Wiederholt sagte sie: „Jan, hier sind wir inmitten der Natur. Alles grünt und blüht. Kein Lärm! Ungestört kannst du dem Gesang der Vögel lauschen. Hier kannst du abschalten! Der Friedhof ist eine Oase der Ruhe, der Besinnung, des zu-sich-Findens, des sich selbst Findens.“ Bei diesen Worten drückte sie ihn fest an sich.

      Sie standen vor einem Grab mit einem kleinen Holzkreuz, auf dem zwei Namen vermerkt waren. Noch konnte Jan nicht lesen, kannte aber die Namen der Verstorbenen vom Hören-Sagen. Die Angehörigen der Toten hatten die Gegend verlassen, waren nach Kriegsende nach Hause zurück gekehrt. Seine Mutter wollte nicht über diese Leute sprechen, Jan keine Auskunft über sie geben. Deshalb hatte er sich an seinen Vater gewandt, ihn über die Leute befragt. Sein Vater erzählte. Viel hatte er zu erzählen. Wie ein altes Waschweib, sagte gewöhnlich seine Mutter, wenn sie auf die Bericht-Erstattung ihres Mannes zu sprechen kam.

      Über die Leute in dem Grab hatte Jan seinen Vater befragt, als er allein mit ihm zu Hause war. Er setzte sich neben ihn auf das Sofa, um keine Unruhe zu verbreiten. Erst als Jan saß, begann der Vater: „Sicher hast du es schon längst bemerkt, dass für deine Mutter fremde Tote wichtiger sind als die eigenen. Bestimmt ist dir auf dem Ost-Friedhof die kleine Blautanne am Grab der Österreicher aufgefallen. Die hat deine Mutter von unserem Gelde gekauft


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