In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang. Werner Hetzschold
Jan noch nicht den Text. Das kam erst später, als er älter war, nicht mehr so oft mit seiner Mutter auf den Friedhof ging. Als er seiner Mutter die Frage stellte, ob in der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war, alle Vögel, auch die, die jetzt während der Wintermonate hier bleiben, in den Süden geflogen sind, war seine Mutter über diese Fragestellung erstaunt und sagte: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Und dann wollte sie von Jan wissen, warum er jetzt solche Fragen stellt. Auch dürfe er nicht sie fragen, sondern er müsste den Dichter um Auskunft bitten, nur sei der schon lange tot. Jan erklärte ihr: „In dem Lied schreibt der Dichter, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar wünschen dir ein frohes Jahr, lauter Heil und Segen. Deshalb nimmt er an, dass diese Vögel nicht im Winter hier geblieben sind, sondern fortzogen. Vielleicht waren damals die Winter noch kälter. Wegen des vielen Schnees und der großen Kälte waren die Amsel, die Drossel, der Fink und der Star damals Zugvögel. Sicherlich änderte sich häufig das Klima. Vielleicht gab es mal warme und mal kalte Winter, mal kühle und mal heiße Sommer, mal trockene Jahreszeiten und mal welche mit viel Regen, Hochwasser und Überschwemmungen.“
Bis zum Rande des Wäldchen erstreckten sich die Wiesen und Weiden der Bauernhöfe. In den Sommermonaten zogen sie Jan magisch an. Auf dem Gelände hielten sich viele Haustiere auf, Kühe und Schweine, dazwischen viel Geflügel: Hühner, Tauben, Truthühner, Enten, Gänse. Mancher Bauer hielt sich auf seinem Hof Perlhühner, die Jan äußerst interessant fand. Sie verhielten sich anders als die normalen Hühner. Ein nahendes Gewitter kündigten sie an. Dann flogen sie lärmend auf die Bäume, waren aufgeregt und nervös. Bis ins Dorf waren sie zu hören. Jan schwärmte von einem Leben auf dem Bauernhof, träumte davon. Saß er im Wohnzimmer vor dem großen Tisch mit seinem Spielzeug, gestaltete er Szenen aus der Landwirtschaft nach, denen er bei Wanderungen gemeinsam mit den Eltern am Wochenende begegnet war. Er imitierte sämtliche Haustiere. Er bellte, miaute, grunzte, meckerte, wieherte. Bei offenem Fenster war er weithin im Viertel zu hören. Die Nachbarn blieben stehen, lauschten seinem vielstimmigen Konzert, schmunzelten, äußerten sich anerkennend über seine rege Fantasie, viele nannten ihn auch einen bloßen Spinner. Alles ahmte er nach: Wind, Sturm, Gewitter, Regen.
Im Wäldchen war es nie langweilig. Viele Vögel gab es dort, auch die Vögel, die er aus den Liedern kannte. Selbst der Bussard brütete dort und zog seinen Nachwuchs auf. Turmfalken errichteten ihren Horst nicht nur in den Kirchtürmen, sondern unter den Dächern hoher Häuser. Verwilderte Haus-Tauben, manchen war noch die einstige Rasse-Taube anzusehen, fanden Unterschlupf in den vielen Ruinen der Stadt. Der Sperber bevorzugte das Wäldchen als Brutplatz. Und dann tauchte eines Tages in den vornehmen Wohnvierteln eine Taube auf, kleiner und zierlicher als die Haus-Tauben. Jan machte sich kundig, was das für eine Taube sei, weil er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er erfuhr, ihr Name sei Türken-Taube und sie sei nach Europa eingewandert. Ihr Herkunftsland sei Kleinasien. Im Atlas schaute Jan nach, wo sich dieses Kleinasien befindet. Er konnte es nicht verstehen, dass diese Taube sich in Richtung Norden ausbreitete, in eine Region, in der die Winter kalt sind, mitunter sehr kalt. Dort, woher sie kam, war es warm, die Sonne schien, der Himmel war blau, vielleicht sogar leuchtend blau. Irgendwo hatte er von einem azur-blauen Himmel gehört.
In seiner Fantasie erblickte er dieses Kleinasien vor sich, das Land aus Tausend und einer Nacht. Es war das Land der vielen Zauberberge, in deren Innerem es verzauberte und verwunschene Städte gab aus längst vergangenen Zeiten. Eines seiner vielen Ziele war es, sobald er groß ist, einmal dorthin zu reisen, sich alles mit eigenen Augen anzusehen, vielleicht sogar für immer dort zu bleiben. Nicht überall auf der Erde gibt es so viel Sonnenschein und einen so blauen ungetrübten Himmel. Die Mutter hatte ihm Geschichten vorgelesen, in denen geschrieben stand, dass dort die Blaue Blume zu Hause ist. Wenn er einmal groß ist, das hat er sich fest vorgenommen, wird er dorthin reisen, um auch die Blaue Blume zu suchen. Er wird sie finden. Davon ist er überzeugt. Seine Mutter kannte Gedichte, viele Gedichte, manche sogar auswendig, die der Blauen Blume gewidmet waren. Er hat sich Texte gemerkt, sie nicht vergessen. Er sagte einen Text auf.
Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au`n,
Ob nirgends in der Runde
Die Blaue Blume zu schaun.
Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blume geschaut.
Seine Mutter nannte diese Gedichte „Die Blaue Blume der Romantik“. Die Blaue Blume verkörpert die Romantik, die Sehnsucht des Menschen nach dem Unerreichbaren, nach dem ewig Fernen, nach dem Verborgenen und Geheimnisvollen, nach der ewigen Schönheit. Du musst nur fest an die Blaue Blume glauben, ihrer Wunderkraft vertrauen. In der Schule war Mutter gelehrt worden, dass die Blaue Blume ein Zeichen sei für die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Das Gedicht „Ich wandre schon seit lange, Hab lang gehofft, vertraut, Doch ach, noch nirgends hab ich Die blaue Blume geschaut.“ bringt diese innige Verbundenheit treffend zum Ausdruck. Die Blaue Blume ist auch das Symbol der Wanderschaft. Ach, diese Blaue Blume hat so viele Bedeutungen, dass ich nicht alle diese Zeichen im Kopf behalten konnte.“
Für Jan war das Fach Deutsch das Lieblingsfach. Ihm wurde das Lesen und Schreiben beigebracht. Für ihn war es der absolute Höhepunkt, als er in der Lage war Bücher selbst zu lesen und Texte selbst zu schreiben. Jetzt war der Zeitpunkt für ihn und seine Mutter gekommen, ihn in der Stadtbibliothek als künftiges Mitglied anzumelden und er ein eigenes Leseheft auf seinen Namen ausgehändigt bekam. Richtig stolz war Jan, jetzt ein eigenes Leseheft zu besitzen, in das nun die Titel der Bücher eingetragen wurden, die er sich ausgeliehen hatte. Wie seine Mutter nahm er jedes Mal viele Bücher mit nach Hause. Seine Mutter wählte nicht nur Romane von Flaubert, Maupassant, Balzac, Stendal, Zola, Gorki, Nexö, sondern auch Bildbände, in denen die Abbildungen von berühmten Gemälden zu bewundern waren. Ihr Lieblingsautor zu dieser Zeit hieß Helmut Drechsler. Er war Fotograf und Schriftsteller, gebürtiger Colditzer. Mutter nannte ihn den begnadeten Tierfotografen. Unter den vielen Büchern, die sie aus der Stadtbücherei mitbrachte, befand sich immer ein Bildband von Helmut Drechsler. Mutter erlaubte mir diese Bildbände zu bewundern, nachdem sie mich mehrere Male und jedes Mal von Neuem ermahnt hatte, sehr sorgsam und pfleglich mit diesen Büchern umzugehen.
Sie sagte: „Ich muss sie für dich ausleihen, denn dir werden sie nicht ausgehändigt werden, da bin ich mir sicher. An Kinder werden nicht so kostbare Bücher ausgeliehen. Schnell sind sie verdorben, weisen Fettflecken auf.“ Mutter vergötterte diesen Drechsler, diesen Tierfotografen. Sehr gut wusste sie über ihn Bescheid. Jan war überzeugt, dass sie von ihm alle Bücher kannte, gelesen, studiert hatte. Sein erster Farbbildband „Kleine Welt am Wegesrand“ erschien 1948 im Brockhaus-Verlag in vielen Auflagen. Dieser Bildband vermittelt einen Eindruck in die unmittelbare Umgebung seiner Heimatstadt. Der Bildband „Zigeuner, Stiere und Flamingos“ faszinierte Mutter. Nur in ihrer Gegenwart durfte Jan das Buch in die Hände nehmen, darin vorsichtig blättern, sich die Bilder ansehen, nachdem er sich nochmals die Hände gewaschen hatte.
Mutter ließ ihn die Fotos betrachten, solange er wollte, erklärte: „Er ist noch ein sehr junger Mann. Soviel ich weiß, ist er noch keine dreißig Jahre alt. Und so tüchtig. Ständig verbesserte er seine Arbeitstechniken. Die Qualität der Bilder nahm zu. Sein Ruhm nahm zu, nicht nur in seiner Heimatstadt, nicht nur in Sachsen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Obwohl er immer unterwegs war, ließ er sich ein Haus bauen auf dem Hartenstein, in dem er mit seiner Frau wohnte, wenn er sich zu Hause aufhielt. Meist war er unterwegs, fotografierte und fotografierte.“
Jahre später! Jan erinnert sich. Anfang 1960 muss es gewesen. Von der Schule kam er nach Hause, betrat die elterliche Wohnung, findet seine Mutter im Wohnzimmer vor, in Tränen gebadet.
„Ist jemand gestorben?“, fragt er besorgt.
„Der Helmut Drechsler ist tot!“ Die Trauer, der Schmerz, der Kummer vereinen sich in ihrer Stimme, in ihrem Gesicht. Hier lies! Das ist der Text, den die Zeitung schreibt. Im Rundfunk haben sie es auch gebracht. Es kann also kein Irrtum sein! Man sagt, von seiner letzten Reise nach Zentralafrika sei er nicht mehr zurückgekehrt. In der Nacht vom 3. zum 4. Februar sei er tödlich verunglückt. Er sei vom Steilufer in einen