In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang. Werner Hetzschold
auf die Erweiterte Oberschule delegieren konnten, denn außer ihm verfügten sie über keinen weiteren Antragsteller mit diesem sozialen Status. Bei den vielen Bewerbern aus Akademiker-Familien erhielten längst nicht alle die Zulassung. Im September begegnete Jan vielen ehemaligen Mitschülern an der neusprachlichen Oberschule wieder, die vorher abgelehnt worden waren. Er erfuhr, dass alle Bewerber aus seiner Klasse die Zulassung für die Abitur-Ausbildung empfangen hatten. Jan fand diese Entscheidung gerecht, denn er hatte immer das Gefühl gehabt, dass diese Klassenkameraden mehr wussten als er, denn sie wussten über Dinge Bescheid, die nicht in der Schule gelehrt worden waren.
Mit Michael war Jan befreundet. Nach der Schule hielt Jan sich oft bis zum Abend bei seinem Klassenkameraden auf. Gemeinsam fertigten sie die Schularbeiten an, spielten Fußball mit anderen Jungen, die in dieser teuren und vornehmen Gegend zu Hause waren, schauten fern. Jans Eltern waren äußerst zufrieden mit dem neuen Freundeskreis ihres Sohnes.
„Endlich werden dem Jungen Manieren beigebracht!“, sagte der Vater.
„Auch wird er sehr viel Neues kennen lernen“, ergänzte die Mutter.
Jans Eltern besaßen kein Fernsehgerät. Gerade so viel Geld konnten sie aufbringen, um sich ein schlichtes, einfaches Radio kaufen zu können. Ein Radio hatte sich Mutter schon immer gewünscht. Es erlaubte ihr, die Nachrichten zu hören und dann vor allem Musik. Mutter liebte Operetten und Opern. Nun war es ihr vergönnt, diesen Kunstwerken in der Küche bei der Arbeit lauschen zu können.
„Ist diese Musik nicht ein unvergleichlicher Kunst-Genuss!“, wiederholte Mutter immer wieder. „Das ist echte Kunst, mein Junge!“
Jan nickte nur.
„Nun sag doch mal was! Schließlich hat Gott dir eine Sprache gegeben, damit du dich mitteilen kannst.“ Ihre Stimme klang verärgert.
„Es ist unsterbliche Musik“, sagte Jan, dabei benutzte er Wörter aus ihrem Wortschatz.
Sie reagierte nicht.
Der Vater seines Klassenkameraden war wie viele Väter Arzt. Nachmittags suchte er seine Patienten auf, nahm seinen Sohn bei diesen Visiten per Auto mit. So bot sich Jan die Gelegenheit, einen großen Teil seiner näheren Heimat kennen zu lernen, der ihm sonst verborgen geblieben wäre. Bei diesen Fahrten erlebte er den regen Verkehr auf den Autobahnen, sah Fahrzeug-Typen, die er sonst nie zu sehen bekommen hätte, weil sie die schmalen Straßen und Gassen der Städte mieden. Während der Vater des Klassenkameraden am Steuer saß, fragte er seinen Sohn in Englisch, Französisch und Latein ab, führte Gespräche mit ihm über Politik, eigentlich über alles, was so im Fernsehen an Nachrichten ausgestrahlt wurde. Der Vater stellte viele Fragen, die Jan nicht hätte beantworten können. Michael war sehr redegewandt, musste erklären, erläutern, Zusammenfassungen geben. Alle diese Themen, die hier diskutiert wurden, kannte Jan nicht, weil sie nicht in der Schule behandelt wurden. Sie gehörten nicht zum Lehrplan, sie wurden einfach übergangen, nicht zur Kenntnis genommen, wie Jan begreifen musste. Michael musste sich mit einem Lehrstoff und mit Themen beschäftigen und auseinandersetzen, die unwichtig für die Schule waren, weil nach ihnen kein Lehrer fragte, sie in keiner Prüfung als Wissen abgefordert hätte. Wenn diese Themen aber für den Unterricht keine Bedeutung hatten, warum verlangte ihre Beherrschung dann Michaels Vater? Er wird doch seinen Sohn nichts Unnützes, vielleicht sogar Falsches abfragen? Dieses Erlebnis ging Jan nicht aus dem Kopf. Fragen wollte er nicht. Er befürchtete keine richtige oder eine ausweichende Antwort zu erhalten. Er musste selbst das Rätsel lösen.
Jan erkannte, dass er die besten Ergebnisse im Fach Deutsch erzielte und dafür den geringsten Arbeitsaufwand investieren musste. Für die Bewältigung der Naturwissenschaften, er dachte an die Fächer Mathematik, Chemie, Physik, musste er viel Zeit opfern, weil er nur schwer Zugang zu ihnen fand. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er naturwissenschaftlich unbegabt sei und dass später einmal eine berufliche Entscheidung auf diesem Gebiet für ihn nicht in Frage käme. Mit dem Deutschlehrer hatte er auch ein Glückslos gezogen. Er verstand es blendend, Jan für dieses Fach zu begeistern. Im Literaturunterricht wurde auch die Epoche der Romantik behandelt. Für Jan war es ein kurzer Streifzug. Die Dichter Novalis, Brentano und Heine wurden als typische Repräsentanten erwähnt, ihre Biografie beinhaltete nicht nur das Datum ihrer Geburt und ihres Todes. Besonders von Heinrich Heine war Jan begeistert. Dessen Sprache empfand er als äußerst zeitgemäß, geradezu modern, musikalisch, voller Rhythmik. Mit der Epoche der Romantik beschäftigte er sich intensiver als eigentlich notwendig war. In dem Zusammenhang erinnerte er sich an seine Kindertage, an die Spaziergänge mit seiner Mutter, an gemeinsame Museumsbesuche. Wieder begegnete er der Blauen Blume, dem Aushängeschild der Epoche der Romantik. Er erinnerte sich, dass damals die Mutter auch die Wortgruppe Blaue Blume benutzte, als sie ihm von den Dichtern erzählte, die entsprechend ihrer Kenntnis zu diesem Dichterkreis gehörten. Als junge Frau lieh sie sich in der Stadtbibliothek Bücher aus, in der über die Liebe zwischen Novalis und seiner Verlobten die Rede war. Auch damals auf dem Ost-Friedhof schwärmte sie von der Beziehung dieser beiden jungen Menschen und sah diese Bindung, diese Verlobung verklärt und rein. Von Sex war nie die Rede, nur von geistiger Verwandtschaft.
„Stell dir vor“, sagte seine Mutter damals auf dem Friedhof und auch jetzt wieder, „wie herrlich jung diese beiden Geschöpfe waren.“
Entsprechend Jans Erfahrung war Mutter die Einzige, die für eine solche Verbindung wie zwischen Novalis und seiner Verlobten den Begriff Geschöpf gebrauchte. Für Mutter hatte das Wort Geschöpf einen sehr hohen Stellenwert. Aus den klugen Büchern erfuhr Jan, dass die künftige Verlobte zu diesem Zeitpunkt, als sie sich das erste Mal begegneten, gerade einmal zwölf Jahre alt war. Sie hieß mit vollem Namen Christiane Wilhelmine Sophie von Kühn. Mit fünfzehn Jahren verstarb sie an Tuberkulose. Diese Krankheit hieß damals Schwindsucht. Vielen Operationen hatte sich diese junge Frau unterziehen müssen, aber alle Eingriffe waren vergebens. Sie konnte diese Krankheit nicht besiegen. Als Novalis ihr Tod mitgeteilt wurde, war er zutiefst verzweifelt und bewahrte und konservierte ihr Bild in seinen Dichtungen. Auch er ist nicht alt geworden. Er war keine dreißig Jahre alt, als er starb. Er gehört zu den Dichtern, die unsterblich bleiben.“
Mutter seufzte tief, war sehr nachdenklich geworden und fügte noch immer in Gedanken verloren hinzu: „Es waren andere Zeiten damals. Die Medizin war damals noch nicht auf dem Stand, den sie heute hat. Drei Mal musste sich Sophie Operationen unterziehen. Drei Mal musste sie furchtbarste Schmerzen erleiden und erdulden. Damals gab es noch keine Betäubungsmittel. Alles musste sie bei vollem Bewusstsein ertragen. Ich habe Bilder von ihr gesehen, gemalte. Damals gab es ja noch nicht die Fotografie. Auf dem Bild, das ich mir eingeprägt habe, sieht sie nicht wie eine Fünfzehnjährige aus, sie wirkt älter und reifer, scheint eine kluge Frau zu sein, die passende Ergänzung zum Dichter. Es muss ein gewaltiger Schock für den Schöngeist gewesen sein, als seine Blaue Blume verblühte, verwelkte, aufhörte zu existieren. Sophie war für Novalis die Muse, die nicht zu ersetzen war, seine ewige unsichtbare Begleiterin. In seinen Gedichten „Hymnen an die Nacht“ ist sie allgegenwärtig, ist ihre Nähe zu spüren, beeinflusst sie Novalis als seine Muse, die ihm bis zu seinem Tod nicht von seiner Seite weicht. In jungen Jahren war ich für die Epoche der Romantik sehr empfänglich, vielleicht lag es daran, weil die Gegenwart keine Lichtblicke bot, die Romantiker aber das Geschehen ihrer Träume zur Wirklichkeit werden ließen. Sie benutzten Wörter wie Morgenröte, Abendstern, Mondschein, Sehnsucht nach der Ferne, ungeheure Sehnsucht. Sie verwendeten viele Symbole wie Tag und Nacht, Leben und Tod. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Ich verfüge nicht über so einen gefühlvollen Wortschatz wie sie, kann nicht so blumige Sätze bilden.“ Jans Mutter hält inne, blickt ihren Sohn nachdenklich an, fragt ihn völlig unvermittelt: „Was willst du nach dem Abitur tun? Vermutlich studieren? Und was willst du studieren?“
Jahre sind vergangen. Jan hat sein Abitur bestanden, auch die Aufnahmeprüfung für die Fächer Anglistik und Germanistik an der Universität. Die Romantik nimmt einen Teil der Vorlesungen in Anspruch. In den Seminaren stehen einige ihrer Repräsentanten im Mittelpunkt, über deren Werke diskutiert wird. Jan hat seine Zuneigung, seine Verehrung zu diesen Dichtern sich bewahrt, liest mehr von ihnen und mehr über sie, als er eigentlich müsste.
Aus seinen frühesten Kindertagen ist ihm Joseph von Eichendorff ein vertrauter