Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten. Heribert Weishaupt

Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten - Heribert Weishaupt


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am Nikolausabend musste zusätzlich der Ofen im Wohnzimmer befeuert werden. Das hatte aber jetzt noch Zeit, denn unnötig früh wollte sie keine Briketts verfeuern. Dafür waren diese zu teuer. Nach dem Frühstück und dem Abwasch wollte sie mit dieser Arbeit beginnen.

      Da das Wohnzimmer höchstens an Sonntagen oder zu Feierlichkeiten, wie eben heute, genutzt und geheizt wurde, würde es fast einen ganzen Tag dauern, bis sich erträglich Wärme ausgebreitet hätte.

      Das Thermometer zeigte seit Tagen auch tagsüber einige Grade unter Null. In diesem Jahr fiel der Nikolaustag auf einen Sonntag, daher war auf den Straßen fast kein Verkehr. Nur wenige Passanten hetzten mit Schal und Mütze vermummt über die Bürgersteige. Kurz vor Einsetzen der Dämmerung, was an diesem Wintertag bereits am frühen Nachmittag der Fall war, begann es zum ersten Mal leicht zu schneien. In kurzer Zeit waren die Wege und Straßen wie von feinem Puderzucker überzogen. Im Laufe des Nachmittags und Abends wuchs dieser Überzug zu einer dicken Schneeschicht an.

      *

      Es war die Nachkriegszeit. Der Krieg war gerade etwas mehr als zehn Jahre vorüber, und der Wohlstand war noch ein junges, zartes Pflänzchen. Meine Mutter hatte „falschen Hasen“ als Festschmaus vorgesehen. Unter diesem Gericht verstand man landläufig Gehacktes aus halb Schweinefleisch und halb Rindfleisch, das mit in Wasser aufgeweichten, alten Brötchen vermengt wurde. Der Wohlstand einer Familie zeigte sich am Verhältnis Gehacktes zur Brötchenmenge. Meine Mutter wollte natürlich nicht, dass man über sie nach der Feier redete und hatte daher das Verhältnis zu Gunsten des Hackfleisches bemessen lassen. Dazu sollte es Kartoffeln von einem bekannten Bauern geben, die im Winter in einer großen Kiste im Keller gelagert wurden. Als Gemüse war Grünkohl vorgesehen, den Mutter am Tag vor dem Festessen im eigenen Garten geerntet hatte. Der Grünkohl war das letzte Gemüse im Jahr, das im Garten geerntet werden konnte. Im Gegensatz zu anderen Kohlsorten, braucht der Grünkohl kräftige Fröste, um sein Aroma zu entwickeln. Erst die Kälte lässt den Zuckergehalt in den Blättern steigen. Und kalte, frostige Nächte hatte es in den letzten beiden Wochen zur Genüge gegeben.

      Der Beginn des Festmahls war für 17 Uhr festgesetzt. Für uns Kinder durfte es nicht zu spät werden. Wir sollten rechtzeitig ins Bett kommen, denn ein Kind ist nur dann ein liebes Kind, wenn es früh ins Bett geht und am nächsten Morgen ausgeschlafen ist. So hieß es bei uns seinerzeit offiziell. Die inoffizielle Begründung, über die aber nie jemand gesprochen hätte, war von wesentlich profanen Motiven geleitet: Um Punkt 20 Uhr begann damals das tägliche Fernsehprogramm mit der „Tagesschau“. Ein Vorabendprogramm oder gar ein Programm über den helllichten Tag hinweg, gab es nicht und war auch überhaupt nicht vorstellbar. Wenn das Programm dann in der Regel so gegen zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr mit den letzten Nachrichten endete, zeigte der Bildschirm danach lediglich nur noch das sogenannte „Testbild“. Vorher erklang zum Abschluss des Tages fast immer die deutsche Nationalhymne. Es soll damals sogar Familien gegeben haben, die deswegen regelmäßig bis zum Ende des Programms wach blieben und stehend mitsangen. Um vierundzwanzig Uhr schaltete der Sender dann auch das „Testbild“ ab. Auf dem Bildschirm war nun nur noch ein schwarz-weißes Schneegeriesel zu sehen.

      Großtante Sybilla hatte sich als Erste und Einzige in der Straße einen Fernsehapparat für etwas weniger als 1000 DM gekauft. Sie konnte sich das leisten, denn sie hatte immer viel Geld als Hausdame in reichen Haushalten verdient und eisern gespart. Meine Eltern hatten es dagegen nur zu einem winzigen Röhrenradio geschafft.

      Die „Tagesschau“ kannte keinen Nikolausabend und würde pünktlich beginnen. Der einzige Tagesschausprecher, den es damals gab, hieß Karl Heinz Köpke und war heimlicher Schwarm vieler weiblicher Fernsehzuschauerinnen und mit Sicherheit auch der Traum von Tante Sybilla und den übrigen Frauen im Haus.

      Kurz vor Beginn der Tagesschau, nie später als 19:45 Uhr, versammelten sich die Bewohner des Hauses jeden Tag bei Tante Sybilla in der Küche zum gemeinschaftlichen Fernsehen. Der Fernsehapparat stand natürlich nicht im Wohnzimmer, denn dieses war an normalen Tagen verschlossen. Außerdem waren die Hausbewohner nicht die Gesellschaft, die würdig war, im Wohnzimmer Platz nehmen zu dürfen.

      Jeder Fernsehgast hatte in der Küche seinen fest zugewiesenen, harten Holzstuhl. Nur meine Großtante thronte in einem bequemen Sessel mit einer warmen Decke über den Knien.

      Selbstverständlich wollte die Hausgemeinschaft auch am Nikolausabend nicht auf ihre lieb gewonnene Fernsehunterhaltung verzichten. Es sollte doch möglich sein, dass der „falsche Hase“ gegessen, und der Nikolaus bis zum Beginn der Tagesschau seine Aufwartung gemacht hatte und damit die Feierlichkeiten des Nikolausabends rechtzeitig beendet waren.

      *

      Nacheinander trafen die geladenen Gäste ein. Onkel Pitt kam als erster bereits eine Stunde vorher. Er und seine Frau Amalie waren die Nachbarn von Großtante Sybilla in der ersten Etage.

      „Lisbeth, ich les‘ dem Jong wat vor, dann kannst du et Essen machen“, war sein Vorschlag, der dankend von meiner Mutter und natürlich auch gerne von mir angenommen wurde.

      „Onkel“ Pitt las mir fast täglich Geschichten und Märchen vor, die ich im Laufe der Zeit Wort für Wort auswendig kannte.

      Als Onkel Pitt beim Vorlesen die Müdigkeit überkam und er nicht mehr den Text getreu dem Buch vorlas, holte ich ihn gnadenlos in die Wirklichkeit zurück:

      „Onkel Pitt, das stimmt nicht was du da liest – lies richtig vor“, forderte ich ihn erbarmungslos auf.

      Dabei schüttelte ich ihn am Arm, damit er wieder vollständig wach wurde.

      „Onkel“ Pitt war gar kein richtiger Onkel von mir. Er hatte keinerlei verwandtschaftliche Bindung zu unserer Familie. Trotzdem nannten ihn alle „Onkel“ Pitt. Wir alle kannten ihn nur mit Glatze. Und zur Feier des Nikolausabends hatte er diese kurz vorher noch mal rasiert und sogar mit Vaseline eingerieben – damit sie auch wirklich richtig glänzte.

      Tante Sybilla stand zum Leidwesen meiner Mutter auch bereits recht früh in unserer Küchentüre. Irgendjemand musste doch die Organisation überwachen, und Tante Sybilla ließ es sich nicht nehmen, selbst diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.

      Kurz vor fünf Uhr stieg als nächstes „Tante“ Amalie, die Frau von „Onkel“ Pitt, die Treppe hinunter.

      Ja, ja, „Tante“ Amalie, das war Eine. Vor Beginn der Tagesschau saß sie in der Regel als Erste auf ihrem Holzstuhl, obschon sie gar nichts von Politik und sonstigen geistigen Themen verstand. Das sagte zumindest „Onkel“ Pitt – und der musste es schließlich wissen.

      Im besten Kleid saß sie wie hypnotisiert in der ersten Reihe und schaute verklärt mit einem Lächeln Herrn Köpke an. Für sie gab es nichts Geheimnisvolleres, als Herrn Köpke, der in die Zimmer der Menschen hineinschaute – und sie wollte selbstverständlich bei Herrn Köpke einen guten Eindruck hinterlassen, wenn er sie so freundlich ansah. Auch heute, am Nikolausabend, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen, denn sie wollte nicht nur vor Herrn Köpke glänzen, sondern auch beim Nikolaus den besten Eindruck hinterlassen.

      Danach trafen Tante Maria, die jüngere Schwester meiner Mutter, mit Sohn Rudilein ein. Rudilein war ein „properes“ und ziemlich pummeliges, kleines Kerlchen. Tante Maria hegte und umsorgt ihn wie ihren „Augapfel“. Diese Bezeichnung eröffnete sie den Frauen aus der Familie anlässlich eines Nachmittagskaffees, als sie völlig in sich gekehrt, die Welt um sich vergessend, über ihren Sohn sinnierte.

      Frau Jachthoff mit ihrer vierjährigen Tochter Claudia trafen zusammen mit Peter, einem elfeinhalb Jahre alten, früh pubertierenden Jungen, und dessen Mutter um Punkt 17 Uhr ein. Anneliese, Peters Mutter, mochte niemand. Der Grund dafür musste an irgendeiner Verfehlung in grauer Vorzeit liegen. Tatsache war: keiner wollte sie eigentlich an diesem Abend gerne dabei haben.

      Aber meine Mutter meinte: „Ach lasst doch, auch die muss mal zu Hause raus und unter Leute. Sie kann doch nicht dafür, dass sie so ist, wie sie ist.“

      Die kleine Claudia war ein echter Wirbelwind, wohingegen Peter ein Trauerkloß war. Nachdem er niemanden begrüßt hatte, verkroch er sich in eine Ecke und las oder schaute sich die Bilder


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