Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten. Heribert Weishaupt

Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten - Heribert Weishaupt


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      Sein Comic „Sigurd der edle Ritter“ war ihm jetzt völlig egal. Aus dem bisher „coolen“ Halbwüchsigen (obschon das Wort „cool“ damals niemand kannte), wurde ein ziemlich aufgeregtes Kind.

      Meine Mutter nahm meinen Vater zur Seite.

      „Mensch, Rudi, was machen wir jetzt? Wir benötigen einen richtigen Nikolaus für die Kinder. Was werden sie sonst denken? Wenn nicht bald ein ordentlicher Nikolaus kommt, sitzen wir im nächsten Jahr allein hier, weil alle vom Nikolausabend bei uns die Nase voll haben.“

      „Ich besorge uns einen neuen Nikolaus“, antwortete mein Vater voller Zuversicht und entschwand unbemerkt von den übrigen Gästen in die dunkle, eisige Nacht hinaus.

      Lisbeth stellte währenddessen die Ordnung im Wohnzimmer oberflächlich wieder her. Entmutigt betrachtete sie die Stelle des Bodens, auf den das Blut des Hasen getropft war. An dem durch die Bluttropfen lädierten Teppich konnte sie jetzt, und falls überhaupt, nichts mehr ändern.

      Die Nikolausgesellschaft begann nun zum zweiten Male mit der Verköstigung des „falschen Hasen“, der allerdings inzwischen kalt geworden war. Allen saß der Schock von Onkel Ernsts Auftritt mit dem echten Hasen noch in den Knochen. Keiner maulte oder beschwerte sich über den kalten, falschen Hasen, oder brachte in irgendeiner Weise das Gespräch auf den, für einen Nikolausabend, unwürdigen Vorfall. Die Erwachsenen setzten freundliche Gesichter auf, nur wir Kinder schauten mit hängenden Köpfen auf unsere Teller und stocherten ohne Appetit in unserem Essen herum.

      „Mein Becher Rumtopf ist weg“, ertönte die Stimme der ungeliebten Anneliese.

      „Dann nimm dir doch einen Neuen“, riet Tante Sybilla.

      Meine Mutter hatte für die Frauen einen Rumtopf nach altem, überliefertem Rezept angesetzt. Reichlich Rum und mit hochprozentiger Flüssigkeit vollgesogene Früchte sollten für gute Laune sorgen.

      Den „verschwundenen“ Becher hatte sich Peter in einem unbeobachteten Moment unter den Nagel gerissen. Gierig hatte er die Früchte heraus gefischt und in kürzester Zeit vernascht. Gegen den Durst hatte er dann die alkoholträchtige Flüssigkeit in wenigen Schlucken hinterher geschüttet.

      *

      „Hast du auch gerade eine Glöckchen läuten hören?“, fragte mich Rudilein mit flüsternder Stimme.

      „Ich weiß nicht, wer soll denn da läuten?“

      „Der Nikolaus natürlich“, flüsterte Rudilein noch leiser.

      Doch, da, schon wieder dieses leise Klingeln. Jetzt hörte ich es ebenfalls. Vernahm ich nicht auch knirschende Schritte draußen im Schnee?

      Und plötzlich schallten dumpfe Schläge gegen die Haustür bis ins Wohnzimmer. Alle Köpfe flogen hoch, auch die der Erwachsenen. Was war denn jetzt wieder los? Meine Mutter sprang mit einem Satz auf, das hätte ich ihr bis dahin nie zugetraut, und rief: „Der Nikolaus kommt!“

      Sie eilte aus dem Wohnzimmer und öffnete die Haustür. Die Erwachsenen machten ihre Hälse lang, um einen Blick in den Flur werfen zu können, denn jeder wollte den unerwarteten Gast als Erstes erblicken. Noch ein Nikolaus? Manch einem graute es davor, was jetzt passieren würde.

      Wir Kinder saßen mit blassen Gesicherten da und kneteten unsere feucht gewordenen Hände – auch der coole Peter konnte seine feuchten Handflächen nicht verbergen. Als er ruckartig den Kopf hob, drehte sich die Umgebung wie im Riesenrad in seinem Blickfeld.

      „Mensch, Peter, reiß dich zusammen“, sagte er zu sich selbst. „Du bist doch fast erwachsen – ein Becher Rumtopf und ein wahrscheinlich unechter Nikolaus können dich doch nicht aus der Bahn werfen.“

      Und dann trat er ein – ein riesiger Nikolaus mit einer hoch aufragenden Bischofsmütze. Ein langer, weißer Bart fiel von seinen Oberlippen über das Kinn hinab auf seine Brust, die ein dicker, roter Mantel mit einem weißen Kragen umgab. Der prunkvolle Mantel reichte bis auf den Boden und ließ nur die Spitzen von dicken Winterstiefeln erkennen. In seiner linken Hand hielt er einen, am oberen Ende spiralförmig gebogenen, goldenen Stab. Und mit der rechten Hand zog er einen schweren Sack hinter sich her.

      Doch wer oder was kroch hinter dieser erhabenen Erscheinung über den Boden. Eine schwarze Gestalt kauerte in der geöffneten Wohnzimmertür – das war der Knecht Ruprecht, mit einer furchterregenden Reisigrute.

      Die Erwachsenen hatten sich langsam von der ersten Überraschung erholt. Wir Kinder jedoch wären am liebsten unter den Tisch gekrochen.

      „Hoffentlich hat er“, und sie meinte damit den heiligen Mann, „nicht gesehen, wie ich vorhin den Nierentisch umgestoßen habe“, betete Claudia.

      Tränen der Angst standen in ihren Augen.

      Der Knecht Ruprecht gab nur hin und wieder undefinierbare Laute von sich. Ansonsten verhielt er sich ruhig, und kam vor allem keinem mit seiner Rute zu nahe. Daher beruhigten wir Kinder uns allmählich etwas.

      „Hoo, hoo! Seid Ihr auch alle brav gewesen?“, fragte der Nikolaus mit tiefer Stimme.

      Die Erwachsenen lächelten und nickten ohne Ausnahme. Mir schnürte die Aufregung die Kehle zu. Nur von Rudilein vernahm ich ein zaghaftes, wahrscheinlich auch ehrliches „Ja“.

      „Dann will ich einmal in meinem großen Buch nachsehen, ob das auch stimmt“, sagte der Nikolaus und sah uns Kinder nacheinander eindringlich an.

      „Ja, ja. Ich kann nichts finden. Meine Engelchen haben scheinbar nichts Schlimmes gesehen. Aber ich habe gehört, dass du“, und dabei zeigte er unmissverständlich auf mich,„mutwillig dein Dreirad zerstört hast. So etwas will ich im nächsten Jahr nicht mehr hören. Aber ansonsten bist du ja ein lieber Kerl.“

      Erleichtert atmete ich auf und wischte mir verstohlen einige Tränen aus den Augen. Hatte ich doch bei den ersten Worten des Nikolaus Schlimmes befürchtet. Mein Blick wanderte vorsichtig zu Knecht Ruprecht. Da dieser ruhig vor der Zimmertür kauerte, ließ meine Anspannung nach.

      Jetzt forderte der Nikolaus jedes Kind auf, nach vorne zu kommen. Äpfel, Nüsse, Süßigkeiten und kleine Geschenke zauberten ein Leuchten in unsere Augen. Wir alle schienen doch brave Kinder gewesen zu sein, egal was die Eltern im Laufe des Jahres auch manchmal gesagt hätten.

      Die kleine Claudia machte ihren schönsten Knicks und wir Jungen senkten andächtig den Kopf zum „Diener“, nachdem wir die Geschenke in Empfang genommen hatten.

      Als ich zurück zu meinem Platz ging und mir mein Geschenk genauer ansah, stutze ich. Wie seltsam, das gleiche Einpackpapier hatte doch vor einigen Tagen auch in unserem Wohnzimmerschrank gelegen – wahrscheinlich liegt es auch jetzt noch dort, oder etwa nicht?

      Dann stimmte Onkel Pitt fröhlich das Lied „Nikolaus ist ein guter Mann“ an, das er dann auch am lautesten sang. Wir Kinder sangen – wahrscheinlich aus Erleichterung – ebenfalls aus voller Brust mit.

      Zum Abschied erhob der Nikolaus würdevoll seine weiß behandschuhte Hand und mit einem erhabenen Abschiedsgruß verschwand er in der dunklen Winternacht.

      Der Knecht Ruprecht konnte es sich jedoch nicht verkneifen, beim Hinausgehen meiner Mutter einen kurzen Hieb mit der Rute zu versetzen. Er hinkte, als er in gebückter Haltung das Zimmer verließ – fast genau so, wie Herr Plum, unser Nachbar im Parterre. Bestimmt hatte das nichts zu bedeuten und war nur ein Zufall.

      Einige Fragen beschäftigten mich für den Rest des Abends und nachher noch weiter im Bett. Wieso hatte der Nikolaus meiner Mutter beim Hinausgehen lächelnd mit einem Auge gezwinkert? Kannte er meine Mutter? Und wo war eigentlich mein Vater? Niemand schien ihn vermisst zu haben.

      Das angestrengte Nachdenken ließ meine Augen zufallen – vielleicht würde ich dieses Rätsel ja bis zum nächsten Nikolausabend gelöst haben.

      Den „echten Hasen” haben meine Eltern einem lieben Nachbarn geschenkt. Meine Mutter hätte das arme Tier nicht anfassen, geschweige denn zubereiten können und keiner von uns


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