Frühstücksgeschichten aus Birk. Группа авторов
Gang, habe eine dick mit Butter und Kunsthonig bestrichene Scheibe Weißbrot in der Hand und esse mit großem Appetit. Ich bin glücklich und fühle mich wie im Schlaraffenland. Alle sehen froh und ausgeglichen aus und haben keine Angst mehr: Wir sind gerettet. Und alles wird gut!
Wenige Tage später die letzte Fahrt: Sie war kurz und führte uns dorthin, wo ich nach den schönen Jahren in Wormditt weitere zehn schöne Jahre verbringen durfte. Die Rendsburger Kreisbahn hielt in Legan an, einem Nest mit wenigen Häusern. Hier wurden wir auf die umliegenden Dörfer verteilt, wobei es mehr Zufall war, in welchem Dorf und bei welchem Bauern man schließlich unterkam. Pferdefuhrwerke standen bereit. Wir stiegen auf den Wagen des Bauern Ohrt, zweitgrößter Bauer von Nienborstel, was sich als ein Glücksfall herausstellen sollte. Nienborstel war ein Bauerndorf im Süden des Kreises, gut 20 km von Rendsburg entfernt, mit rund 500 Einwohnern, ohne Kirche, mit einer dreiklassigen Volksschule, einem Bäcker, einem Lebensmittelladen, einer Meierei, einer Mühle und zwei Gastwirtschaften, eine davon mit einem großen Saal, in der alle möglichen Veranstaltungen stattfinden konnten, so vor allem Tanzfeste, sogar Theater und Kino, aber auch Versammlungen und auch für die Jugend Zusammenkünfte, Volkstanzproben und Tischtennisspiel.
Frau Ohrt war ausgesprochen freundlich. Wir aßen zusammen mit der Familie mit Magd und Knechten in der großen Küche. Zum Wohnen, eigentlich nur zum Schlafen bekamen wir das Elternschlafzimmer, weil ihr Ehemann noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Statt zwei mussten nun fünf in dem Ehebett schlafen, vier nebeneinander, die kleine Gitti quer am Fußende. Gleichwohl: Es war schön dort. Die Ohrts hatten ebenfalls vier Kinder, die im Alter genau zu uns passten. Wir freundeten uns schnell an, und bei mir hat diese Freundschaft bis heute angehalten. Als Bauer Ohrt wieder da war, wurde unser Zimmer wieder von den Eheleuten benötigt. Wir mussten also noch einmal umziehen, was für uns, besonders für mich, keine Verschlechterung war. Wir wohnten nun – nicht weit von Ohrts entfernt – für die nächsten zehn Jahre in der Volksschule, genau im Zentrum des großflächigen Dorfes. Der Schulweg war nun noch kürzer: Nur die Treppe runter und man war in der Klasse. Das änderte sich allerdings später, als ich die Herderschule in Rendsburg besuchte. Dann waren es sechs Kilometer mit dem Fahrrad und von Legan 15 Kilometer mit der Kleinbahn und weitere 1½ Kilometer zu Fuß.
Das Wohnen in der Schule hatte Vorteile. Dort hatte ich ganz nah einen Lehrer, der irgendwie Ersatz für meinen vermissten Vater wurde und der mich ein wenig förderte. Im übrigen war dort auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts immer was los. Kinder und Jugendliche trafen sich meistens auf dem Schulhof: So gab es zum Beispiel große Schnitzeljagden, so wurde Völkerball gespielt oder man quatschte miteinander. Die Einwohnerzahl des Dorfes hatte sich auf über tausend verdoppelt. Was aber nicht zu einem sonst vielfach beobachteten Flüchtlingsproblem führte. Die Kinder machten keine Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, bei den Erwachsenen war es ebenso. Irgendwie wachte Nienborstel durch den Zuzug der Flüchtlinge auf – wie aus seinem Dornröschenschlaf. Erstaunlich ist es schon, dass die unterschiedlichen Landsleute aus Schleswig-Holstein, aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern und Schlesien gut miteinander auskamen. Auch dass wir katholisch waren, machte nichts. Man fragte zwar nach und wunderte sich wohl auch über unsere katholischen oder sonstigen ostpreußischen Eigen- und Besonderheiten. Doch fühlte ich mich nie ausgegrenzt oder sonst wie benachteiligt.
1955 kam meine Familie im Rahmen des damaligen Umsiedlungsprogramms nach Nordrhein-Westfalen. Ich wäre gern in Holstein geblieben. Und insofern bedeutete der Umzug für mich wieder der Verlust einer gerade neu gewonnenen Heimat. Dieses Mal war es die äußeren Umstände, die Arbeitsmöglichkeiten für meine Geschwister, die mich wieder zu einem „Heimatvertriebenen“ machten. Das war in keiner Weise mit der Flucht vergleichbar. Doch fiel mir die Umstellung in Wuppertal nicht leicht.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Ausklang
Im Sommer 1989 habe ich mit meiner Frau eine zweiwöchige Reise nach Danzig und Ostpreußen (Ermland und Masuren) gemacht. Von Danzig aus hatten wir ein Taxi gemietet und zum Dolmetschen einen Reiseleiter angeheuert. Unser Ziel war Wormditt, das heutige Orneta, das anders als die meisten Städte Ostpreußens im Krieg fast unzerstört geblieben war. Ich konnte mich noch an manche Gebäude, Straßen und Orte erinnern, so an die wuchtige katholische Backsteinkirche, meine Schule, in die ich fast fünf Monate lang gern gegangen war, den Kindergarten, das Krankenhaus, und an die Drewenz, einen kleinen romantischen Fluss, an dem wir zunächst gewohnt hatten und in dem ich als Vierjähriger beinah ertrunken wäre. Da gab es noch den Marktplatz mit den Laubengängen, mit dem Rathaus und der Bushaltestelle, von wo aus ich als Fünfjähriger an einem frühen Morgen ganz allein eine ausgedehnte Busfahrt unternommen hatte, was dann eine lange Suche bis zum späten Nachmittag ausgelöst hatte. Und wir fuhren schließlich zum Bahnhof vor der Stadt und nahmen denselben Weg, auf dem wir am Vormittag des 22. Januar 1945 damals zu Fuß unsere Flucht begonnen hatten.
Vom Marktplatz aus fand ich auch leicht das Haus, in dem wir zuletzt gewohnt hatten. Es war schon ergreifend, in das Haus zu gehen, die Treppe hinaufzusteigen und die alte Wohnung zu betreten. Erstaunlich viel erkannte ich wieder: die Diele, die Abstellkammer, die Küche sowie die Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer. Erstaunlich war, dass sich manches nicht verändert hatte; so gab es immer noch den alten Herd, den Kachelofen. Manches Möbelstück – jetzt ausgewechselt – stand am selben Platz wie früher. Aber alles war in meiner Erinnerung viel größer. Herzlich wurden wir von dem jetzt dort wohnenden Ehepaar aufgenommen. Sie stammten aus dem von Stalin annektierten östlichen Teil Polens und waren ihrerseits aus ihrer Heimat vertrieben worden. Gegenseitige Sympathie stellte sich schnell ein. Diese freundschaftliche Beziehung hielt noch viele Jahre und endete nur deshalb, weil ich später keinen Übersetzer für unseren Briefwechsel finden konnte. Einmal noch war unsere Tochter dort zu Besuch und wurde mit gleicher Herzlichkeit aufgenommen.
Übrigens hatte der Sohn unserer Wohnungsnachfolger wie ich Jura studiert und war in Elbing (Elblag) Staatsanwalt geworden. Was wäre wohl – so denke ich – aus mir geworden, wenn es nicht den Krieg und die Flucht gegeben hätte. Vielleicht hätte ich in Königsberg Jura studiert und wäre Richter am Amtsgericht Wormditt geworden. Es wäre ein beschauliches Leben gewesen, fernab der großen weiten Welt inmitten einer großen Familie mit den vielen Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen und so weiter und so weiter. Irgendwie schön, einen solchen Traum zu träumen.
Meine Kindheitserinnerungen gelten nicht nur für die ersten sechs Jahre, vielmehr auch für die zehn Jahre in Holstein. Das Leben dort hat mich sicherlich in besonderer Weise geprägt. So hat sich mein Heimatgefühl vornehmlich dort entwickelt, in diesem Dorf Nienborstel, wo ich bewusst den Großteil meiner Kindheit verbracht habe, mit einer Fülle von Erlebnissen, in der dortigen Landschaft mit den dort lebenden Einheimischen und Flüchtlingen. An all das erinnere ich mich gern. Und immer wieder habe ich Nienborstel aufgesucht und mit alten Schulfreunden gesprochen, so auch noch im vergangenen Jahr (Juni 2011). Dieses Mal war ich mit dem Fahrrad dort, mit dem ich dort die früheren Wege, besonders auch meinen weiten Schulweg nach Rendsburg nachgefahren bin. Erstaunlich ist, welche weiten Wege wir damals mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt haben. Alte Freundschaften leben weiter. Wir reden nicht nur über Vergangenes, sondern auch über das Heute. Und fast hat man das Gefühl, als wäre man erst gestern zusammen gewesen. Übrigens gilt dies besonders für die regelmäßigen Treffen der Herderschüler. Mit einigen von ihnen hat sich eine Freundschaft entwickelt, die es damals so intensiv gar nicht gab.
Aber das ist – wie ich schon sagte – eine andere Geschichte.
1Das war zunächst Tante Liesa, die als ältere Schwester die Führung übernommen hatte, mit ihren fünf Töchtern, dann die Oma und Tante Berta (kinderlos).
2Tante Berta und die Oma mussten zurückbleiben. Beide haben sich auf andere mir unbekannte Weise retten können. Tante Berta landete schließlich in einem Dorf in der Magdeburger Börde und lebte dort mit ihrem Mann weiter in der Ostzone (DDR)., wo sie auch starben (1975 bzw. 1982). Die Oma kam irgendwie im Westen an und lebte bis zu ihrem Tod bei ihrem Sohn im Sauerland († 31.12.1955).