Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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Zeit die Philosophen dazu zwingt, grundsätzlich anders, neu zu denken: neuzeitlich. Und man erkennt: Was da ausgreift bis ins Größte, Weiteste, es wirkt jetzt – in diesem Augenblick – im Innersten des eignen Selbst.

      Was es hier zu entdecken gilt, dessen Name, seine kürzeste Bestimmung, ist dieses Buch. Und der Leser wird sich die Sache nicht einfacher machen können, als sie mir geworden ist. Ganz wird er sie erst durchmessen müssen, bevor er sie ganz ermisst. Den frühesten Fund zwar wird ihm das erste Kapitel an die Hand geben, eines Rätsels Lösung das zweite, aber das dritte wird neue Zumutungen an ihn stellen, und erst wenn er die Zumutungen des vierten in aller Schärfe empfindet, wird er umfassen, was das erste ihm erzählt. Er wird Unbekanntes, Neues zu gewahren haben gerade in dem, was sich sonst von selbst versteht, dort, wo die gediegensten Gewissheiten herrschen. Die gelten hier nicht mehr. Das wird verschrecken wie alles Unerhörte, und mehr noch, es wird auch gefährlich: Denn was hier entdeckt ist, es hat nicht seiner Entdeckung geharrt, es hat sich ihr im Gegenteil energisch über vier Jahrhunderte hinweg erfolgreich widersetzt – auch davon wird zu handeln sein. Diesen Widerstand schürt eine große Kraft: Der Leser wird sie wohl und vielleicht übel selbst empfinden. Denn was immer er hier liest, es weist auch auf ihn selbst – es weist in unser Selbst. Deshalb gilt es hier eine Kraft aufzuwenden, größer noch als die, mit deren Hilfe jenes sich verborgen hält.

      Dieses Buch versucht dorthin den kürzesten Weg zu weisen, durch ein Gelände, das sich vertraut und doch unendlich fremd nun vor uns dehnt. Nicht jeden Flecken auf dieser Weite kann der Weg berühren, doch war es meine Mühe und meine Freude, ihn mit allen notwendigen Windungen so zu legen, dass am Ende ein Überblick gewonnen ist. Dieser Blick jedoch, der unsere Wirklichkeit so tief verändert zeigt, muss selbst, indem er das Verborgenste entdeckt, auch diese Wirklichkeit verändern.

       Erstes Kapitel

       Wir sprachen über Rhythmus im allgemeinen und kamen darin überein, dass sich über solche Dinge nicht denken lasse.

      Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 6. April 1829

       I

       Eintritt

      Vom Rhythmus versteht jeder alles, weil er von Rhythmus nichts verstehen muss, um ihn vollständig zu kennen, nämlich zu empfinden. Was Rhythmus ist, muss ich deshalb niemandem erklären. Jeder weiß davon genug, selbst wenn ihm schwer fallen sollte zu sagen, was er da weiß. Jeder weiß genau so viel davon, wie er für alle Fälle nötig hat: eben um Rhythmus zu empfinden. Dies, nichts anderes entscheidet hier, denn wenn es entschieden hat, wenn ein Hörender etwas als rhythmisch empfindet, ist Rhythmus einfach da, niemand braucht zu rätseln und zu raten, es bedarf keiner Definition und keines Gelehrten, keiner Erklärungen, die jemand dazu abgibt. Rhythmus ist ebenso gedankenlos und ohne alle bewusste Anstrengung zu verstehen wie die Zeit. Und doch, wie bei ihr verliert sich alles Einfache im selben Augenblick, da man versucht, sich Rechenschaft darüber abzulegen. Eben dies aber habe ich vor zu tun.

      Am Rhythmus, nicht an der Zeit. Denn beide sind sehr wohl zu trennen, wie eng verflochten sie sonst auch sein mögen. Erschwert und zumindest verschleiert wird ihre Unterscheidung, wo Rhythmus ganz zum objektiven Phänomen genommen wird: als der zeitlich strukturierte Ablauf einer Sache. Natürlich hat es sein Recht, vom Rhythmus eines Films zu sprechen, vom Rhythmus eines Tags, eines Gesprächs oder einer bestimmten S-Bahn-Linie. Sie alle lassen sich in Zeitangaben fassen, im zeitlichen Verhältnis ihrer Teile und Abschnitte, aber in diesen Zeitangaben sind sie auch schon vollständig gefasst, keine rhythmische Empfindung muss mich außerdem durchzucken, wenn die S-Bahn pünktlich einfährt. Nichts spricht also zwar dagegen, den objektiven Zeitablauf von was auch immer dessen Rhythmus zu nennen, aber es klärt mir nichts von dem, weshalb man überhaupt von Rhythmus spricht: seine Unterscheidung nämlich von dem, was einmal nicht rhythmisch ist. Wenn jede periodische Wiederholung, das Tuckern eines Motors oder der Wechsel von Tag und Nacht als solche rhythmisch sind, und nicht nur alles Periodische, sondern was immer sich geordnet bewegt oder, interessanter noch und bei weitem häufiger, was sich nicht geordnet bewegt, was sich also nur überhaupt verändert, alles eben, was zeitlich »strukturiert« verläuft, dann heißt rhythmisch zuletzt alles, was nicht verharrt. Auf diese Weise jedoch wird Rhythmus als nichts Anderes definiert als Zeit selbst: Wo immer Zeit sein soll, hat sich etwas zu verändern, und wo sich etwas verändert, da hat es seine Zeit. Eine Bewegung deshalb als »Rhythmus« zu fassen, sagt ihr nur auf den Kopf zu, dass sie in der Zeit verlaufe und »zeitlich« sei – zeitliche Bewegung: eine Tautologie.

      Forscher, die sich ihrer bedienen, beginnen ihre Erklärungen zum Rhythmus etwa damit, dass sie den Herzschlag beschreiben, als dessen Impulsgeber den Sinusknoten erwähnen und weiter die Muskelzellen, die sich notfalls selbst den Impuls geben; dann sprechen sie allgemein von den Nervenzellen mit ihrem Feuern von Signalen und stehen alsbald, da sich ohnehin jede Zelle teilt, da sie wird und vergeht und weil sich am Lebenden letztlich alles, sofern es nicht mausetot ist, irgendwie rührt, bewegt und verändert, vor dem erstaunlichen Schluss: Rhythmus sei »Prinzip des Lebens«. Andere sehen auch darin noch nicht genug der Ehre, denn nach demselben Lebens-»Prinzip« hält ja auch die toteste Materie nicht still. Moleküle kennen die unermüdliche Brownsche Bewegung, die erst auf einem erzwungenen Nullpunkt zur Ruhe käme, Atome machen es ihnen nach, und schon die Elektronen verweilen so wenig an einem festen Ort, dass sie nur noch statistisch irgendwo anzutreffen sind. Entsprechend rüttelt es und schüttelt sich, driftet, rast und zittert es bis ins immer Kleinere vor sich hin, hinunter bis zu den Quarks und weiter zu allen im Moment noch unnennbaren Teil-Teil-Teilchen. Wie aber im Kleinen, so erst recht im Großen: Die Planeten im Sonnensystem, die Sonnensysteme in der Galaxis, die Galaxien im Universum, die Universen im Multiversum und all das zuletzt noch, wie es heißt, im großen Auf und Ab von Big Bang zu Big Bang – allüberall Bewegung und, zumindest im mittleren Größenbereich, je toter, desto regelmäßiger und folglich, wenn es denn wäre, um so viel rhythmischer. Wer will, selbstverständlich, der mag all das, und also die gesamte Welt von vorn bis hinten und von top zu bottom, »Rhythmus« nennen, weil alles sich bewegt: der Kosmos als einziger großer Tanz, als Fest und Jubel. Wem ein Eisklumpen wie der Uranus oder die Ringe des Saturn als Eiswüsten zerschroteter Materie eine solche Vorstellung nicht abkühlen, dem mag das Bild Freude machen. Ich bestreite jedoch, dass es mehr leistet, als den Begriffen »Bewegung«, »Veränderung« oder »Zeit« einen weiteren nur gleichbedeutend an die Seite zu stellen. Und wenn sich »Rhythmus« jedenfalls dadurch von ihnen unterscheiden soll, dass er deren Binnenstruktur meint, den Ablauf einer Gesamtbewegung im Einzelnen, die besonderen Zustände innerhalb anhaltender Veränderungen, einen bestimmten Verlauf in der Zeit, gut, so hätte er seine gewisse Anschaulichkeit. Rhythmus aber zum Prinzip erheben, ob des Lebens oder des Kosmos, heißt bloß der theoretisch dürftigen Tatsache staunende Göttlichkeit zusprechen, dass sich überhaupt etwas bewegt und nicht nichts. Es mag ein Wunder sein. Die Freude, es auf das eine Wort zu bringen, als wären die Millionen und Abermillionen Arten von Bewegung, da das Wort es will, nur Abkömmlinge dieses Einen, von »Rhythmus«, teile ich nicht.

      Ich werde von demjenigen Rhythmus sprechen, an den man zu allererst denkt, wenn man seinen Namen sagt: Rhythmus, den man beim Hören wahrnimmt, Rhythmus, den man mit Klängen verbindet und mit Tanz, den wir an Musik wahrnehmen und an Versen, der in die Glieder fahren kann, der ins Ohr geht oder den man mit Fingern auf die Tischplatte trommelt. Es ist das, was man, indem man es hört, als rhythmisch empfindet: eine Sache also der Wahrnehmung, subjektiver Rhythmus.

      Schon das macht ihn ungeeignet zu einer Metaphysik des Kosmischen oder des »Lebens« qua Bewegung. Sollte ich einmal gelangweilt dasitzen und es erklingt ein Stück im Salsa-Rhythmus, wird er mich zum Tanzen treiben: Er tut seine subjektive Wirkung mittels Wahrnehmung. Anders, wenn es still bleibt: Dann helfen mir sämtliche Millionen Rhythmen nichts, in denen da jeden Augenblick meine Zellen zucken, pulsieren und feuern oder in denen die Atome meines Lehnsessels das tollste Spektakel aufführen.


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