Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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umgekehrt auch, dass wir nicht mehr als rhythmisch empfinden, was ihnen rhythmisch war. Und das lässt sich ja unschwer überprüfen. Auch wenn wir den antiken Hörern nichts mehr von unserer Musik vorspielen können, um sie nach ihrer Rhythmusempfindung zu fragen, so können wir doch umgekehrt uns selbst etwas vom antiken Rhythmus zu Gehör bringen.

      Wie er geklungen hat, das vorzuführen, mögen ein paar Verse dienen. Die folgenden zählen zu einer der geläufigsten Versart bei den Griechen, dem iambischen Trimeter, und nur der einfacheren Lesbarkeit halber zitiere ich nicht griechische, sondern solche auf Latein. Versbau und Rhythmus waren für die römische Antike – jedenfalls zu der Zeit, aus der diese Verse stammen – grundsätzlich die gleichen wie für die griechische, und was also an den folgenden Versen, aus der siebzehnten Epode des Horaz, rhythmisch war, war es für Römer ebenso wie für die Griechen. Die Frage ist nur, ob es für uns noch immer rhythmisch ist.

      Unxere matres Iliae addictum feris

      Alitibus atque canibus homicidam Hectorem,

      Postquam relictis moenibus rex procidit

      Heu pervicacis ad pedes Achillei.6

      Vier makellose iambische Trimeter, gedichtet nicht nach Akzenten, wie wir es von unseren Versen gewohnt sind, sondern allein nach der Abfolge von lang und kurz. Um sie richtig zu lesen, muss man also wissen, welche Silbe lang und welche kurz ist, und dafür setze ich sie noch einmal her, durch Punkte in Silben getrennt und alle lang zu sprechenden Silben unterstrichen; jede nicht unterstrichene Silbe ist kurz, etwa halb so lang zu sprechen wie die langen. Verschliffene Silben deute ich etwas grob nur durch einen Apostroph an.

      Un.xe.re ma.tres I.li.a’d.dic.tum fe.ris

      A.li.ti.bus at.que ca.ni.bus ho.mi.ci.d’Hec.to.rem,

      Post.quam re.lic.tis moe.ni.bus rex pro.ci.dit

      Heu per.vi.ca.cis ad pe.des A.chil.le.i.

      Es ergibt sich diese Abfolge langer und kurzer Elemente:

      In dieser Abfolge war es für griechische und römische Ohren rhythmisch. Und für die unseren? Uns, so würde ich behaupten, ist es schon unfasslich, wie diese vier Reihen aus Längen und Kürzen auch nur viermal der gleiche Vers sein sollen, viermal ein iambischer Trimeter, hörbar viermal die gleiche rhythmische Einheit. Aber vielleicht helfen ja ein paar Erklärungen, und es wird uns schließlich doch noch fasslich – und am Ende gar rhythmisch.

      Die Verse heißen Trimeter, weil sie nach drei wiederkehrenden Füßen gehört wurden. Diese Füße haben jedoch, wie es dem antiken Rhythmus entspricht, nicht einfach eine bestimmt festgelegte Abfolge von lang und kurz, sondern unterschiedliche solcher Abfolgen wurden jeweils als der gleiche eine Fuß aufgefasst. Innerhalb der zitierten Verse sind es fünf verschiedene; ich notiere sie in der Reihenfolge ihres Vorkommens und unterteile sie bereits nach Arsis und Thesis: | — — : ∪ — |, | — ∪ ∪ : ∪ — |, | ∪ ∪ ∪ : ∪ ∪ ∪ |, | ∪ — : ∪ — |; am Versschluß ergibt sich, durch die dort grundsätzlich freie Quantität des letzten Elements, zweimal auch | — — : ∪ ∪ |. Das also sind fünf der möglichen Folgen von lang und kurz, die im Trimeter einen Iambus ausmachen, sind also buchstäblich fünf Iamben – man mag daran nebenbei erkennen, wie wenig die Einheit »Fuß« in der Antike etwas mit dem zu tun hat, was wir heute an neuzeitlichen Gedichten noch immer Versfuß nennen. Das einzige Element, das in einem solchen antiken Iambus festliegt, ist die Kürze zu Beginn der Thesis. Die Proportion, die sich zwischen Arsis und Thesis ergibt, ist entweder 4:3 oder 3:3; am Versende kann die Thesis auch auf 2 tempora verkürzt werden.7 Und nun spreche man sich diese Versfüße einmal vor: lang-lang kurz-lang, lang-kurz-kurz kurz-lang, kurz-kurz-kurz kurz-kurz-kurz, kurz-lang kurz-lang, lang-lang kurz-kurz. Und frage sich, ob man sie alle fünf als die gleiche Einheit wahrnimmt, als Proportion, und vor allem: ob man sie als rhythmisch empfindet.

      Aber vielleicht kann ja das Experiment nur an den vollständigen Versen gelingen. Also stehen sie hier noch einmal, in einem Fluss, nicht in Versfüße zerschnitten, und damit auch die Sprache nichts an der rhythmischen Auffassung behindern kann, lediglich auf die Silben »lang« und »kurz« gebracht, rein als diejenige zeitliche Folge, die doch nach antiker Wahrnehmung die rhythmische war:

      lang lang kurz lang lang lang kurz lang lang lang kurz lang

      lang kurz kurz kurz lang kurz kurz kurz kurz kurz kurz lang lang kurz kurz

      lang lang kurz lang lang lang kurz lang lang lang kurz kurz

      lang lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz lang kurz lang

      Hören wir darin Rhythmus? Nein. Gelingt es uns auch nur irgendwie, daran die Empfindung von Rhythmus zu gewinnen? Sicher nicht. Oder muss man doch noch die Sprachakzente der Originalverse hinzuhören, damit es uns ins Ohr geht? Ein letzter Versuch:

      Un.xé.re má.tres I.li.a’d.díc.tum fé.ris

      A.lí.ti.bus át.que cá.ni.bus ho.mi.cí.d’Héc.to.rem,

      Póst.quam re.líc.tis móe.ni.bus rex pró.ci.dit

      Héu per.vi.cá.cis ad pé.des A.chíl.le.i.

      lang láng kurz láng lang láng kurz lang láng lang kúrz lang

      lang kúrz kurz kurz láng kurz kúrz kurz kurz kurz kurz láng láng kurz kurz

      láng lang kurz láng lang láng kurz lang lang láng kurz kurz

      láng lang kurz láng kurz lang kúrz lang kurz láng kurz lang

      Nein, es wird nur heillos – aber nicht rhythmisch.

      Nichts will helfen: Wir mögen uns mit den antiken Versen noch so viele Mühe geben, wir mögen mit dem besten Willen anerkennen, dass sie Rhythmus gewesen sind, wir mögen unser Gehör darin schulen, jene Zeitproportionen überhaupt einmal genau wahrzunehmen, schließlich mögen wir uns gar irgendwie hineinhören und ihren Klang goutieren; jene spezifische Rhythmusempfindung aber, die wir doch sonst so natürlich und selbstverständlich in uns verspüren, wenn wir Takte hören, stellt sich nicht ein. Und das liegt nicht daran, dass wir zu wenig vom antiken Rhythmus wüssten oder dass uns bloß die Übung abginge; es liegt auch nicht an der Sprache, am Lateinischen oder Griechischen – denn in der Fassung mit dem einfachen »lang« und »kurz« verwehrt sich uns der Rhythmus genauso wie im lateinischen Wortlaut. Was für die Menschen der Antike rhythmisch war, können wir der Überlieferung entsprechend rekonstruieren, können wir im Klang der überlieferten Verse konstatieren, aber wir können es selbst nicht mehr als rhythmisch empfinden: weil uns diese Rhythmuswahrnehmung fehlt – weil uns eine andere Rhythmuswahrnehmung bestimmt.

      Was »ursprünglich« einmal Rhythmus war, ist es also für uns nicht mehr. Und umgekehrt: Was für uns Rhythmus ist, war es nicht schon immer. Das ist eine so einfache Erkenntnis, dass mit den antiken Versen fast schon zu viel Aufwand für sie getrieben scheint. Denn selbst die kursorische Erinnerung etwa an traditionelle fernöstliche Musik würde für den Nachweis genügen, dass Rhythmus nicht immer, überall und für alle Menschen Taktrhythmus war. Aber je einfacher und trivialer die Erkenntnis, umso bemerkenswerter, dass sie Canetti entgangen ist – und nicht nur ihm.

      Jeder, wie gesagt, setzt ja unwillkürlich voraus – »ob er es beabsichtigt oder nicht« –, dass, was ihm rhythmisch ist, schon als solches Rhythmus wäre – zeitlos, natürlich, ewig. Der Grund, weshalb wir dies glauben, ist zunächst bis zur Tautologie trivial: Jeder kann nur das als rhythmisch empfinden, was er als rhythmisch empfindet, was also seiner Rhythmuswahrnehmung entspricht.


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