Die Stimme des Atems. Ernst Halter

Die Stimme des Atems - Ernst Halter


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zwingt. Ich habe die Blumenrabatten zu meiner Linken – kein gutes Gefühl. So bleibe ich auf dem Sitzplatz hinter der Scheinzypresse stehen, schliesse die Augen und drehe mich mit einem Schwung auf einem Absatz zweimal um mich selbst. Augen auf! Nun liegen die Rabatten auf der guten Seite. Die Primeln blühen; kostbar sind mir die weinroten, violetten, sonnenblumengelben, und die eine dunkelblaue. Ich erinnere mich, dass sie am Fuss der Trockenmauer vor der Hausterrasse blüht, und hüpfe zurück.

      Durch die Waschküchentür über mir die Stimmen der Frauen, ruhig, sachlich, hie und da, um ein Zischen oder Klatschen zu übertönen, leicht angehoben, verständlich fast nur die alltäglichen Wendungen: Die Socken dort drüben. – Nochmals. – So, die sind sauber. Die Wäschezentrifuge wummert. Klatsch liegt weder meiner Mutter noch der Wäscherin. Wenn über andrer Leute Wäsche gesprochen wird, dann objektiv. Auch so hatʼs Löcher drin. Ein deutlich hörbares Müdewerden der Stimme meiner Mutter, ein Erlöschen ihres Interesses nähme jedermann die Lust, sich hinter vorgehaltener Hand im übertragenen Sinn weiterzuverbreiten. Sie ist der Meinung, man müsse zu dem, was man gesagt hat, auch vor denen stehen können, die es betrifft.

      Meine Nase steckt tief im dunkelrostbraunen Kelch einer «General de Wet»; den seifigen Mief der hellgelben Tulpen mag ich nicht, dagegen lockt mich der bittere Schokoladenduft der dunklen Arten. Vronis helle Stimme ruft mich, in einer Viertelstunde sei das Znüüni auf dem Tisch; ich richte mich auf, das Mädchen winkt aus der Waschküchentür. Als ich eintrete, ist Vroni mit der Wäscherin allein; die Mutter bereitet oben den Imbiss zu. Frau Ess, die Ärmel ihres Überkleids aus ausgebleichtem blauem Leinen hinter die Ellenbogen gerollt, steht in der schwarzen Gummischürze vor dem Siedekessel. Mit einem letzten Schnorcheln zieht sie den Stössel heraus und versenkt ihn linker Hand im Vorwaschtrog, wo die zweite, längst eingeweichte Portion bis obenauf schwimmt. Sie ergreift einen fasrigen schneeweissen Holzstab, sticht damit in die dampfende Tiefe des Kessels und hebt mit einem Stöhnen der Anstrengung die erste Wäscheladung, alles Bettlaken, aus dem Sutt. Sie dreht, lässt abtriefen, dreht; die Leintücher winden sich zu einem dicken Wulst um das Stangenende. Nun flutscht sie den dampfenden Knäuel in weitem Bogen in den Spültrog. Vroni dreht bis zum Anschlag an den Flügeln des Kaltwasserhahns, das Wasser spritzt. Genug! Mit dem Stössel vertreibt Frau Ess die Laugereste aus der gesottenen Wäsche. Inzwischen schöpft Vroni mit dem Goon, einer langstieligen, etliche Liter fassenden Blechkelle, das verbrauchte Wasser aus dem Siedekessel und giesst es in den kleinen Betonkännel am Fuss der Waschküchenwand; milchig trüb rinnt es dahin. Zuletzt ergreift Frau Ess den Siedekessel an beiden Messinghenkeln, hebt ihn heraus und schüttet den Rest der Lauge durch die Dole hinter der Türschwelle. Vroni wartet am Schwenkhahn; der Kessel wird wieder eingesetzt, Heisswasser für den zweiten Sud läuft ein. Mit beiden Händen hebt Frau Ess die Ladung – Frottierzeug, Kissenbezüge, Servietten – aus dem Vorwaschtrog, lässt sie abtriefen und klatscht sie in den Siedekessel, dann zerrt sie an einem Bändel und zieht sich die schwarze Gummischürze wie eine enge Haut vom massigen Leib. Wieder steht sie in verwaschen blauem Leinen da. Vroni hat Holz nachgelegt; Frau Ess dreht den Heisswasserhahn am Schwenkarm zu und stülpt den Deckel über den zweiten Sutt. Wir treten erst in den Kellervorraum, dann in den gefliesten Korridor hinter der Haustür, steigen die Kunststeintreppe hoch in den Flur und lassen dort die trotz der Holzpritschen durchnässten Schuhe neben der Schwelle der verglasten Esszimmertür stehen.

      Drei Frauen und ein Bub versammeln sich am Tisch mit den gerundeten Schmalseiten; ich bin stolz, als ob auch ich schwer gearbeitet und die Zwischenmahlzeit verdient hätte. Sie sitzen auf den Stühlen mit blaugrünen Samtpolstern, mir haben sie mein Rosshaarkissen an den Platz des Vaters auf der Eckbank gelegt, wo die östliche und die südliche Fensterfront zusammentreffen. Frau Ess, welcher dieser Ehrenplatz gebührte, hätte Mühe, sich zwischen Tisch und Bank durchzuzwängen. Schwarzbrot, Butter, Käse, dazu Schwarztee in preussischblauen Steinguttassen. Frau Ess behandelt sie mit Ehrfurcht, obwohl sie wie Spielzeug in ihren fleischrosigen Wäscherinnenhänden liegen.

      Draussen blinken die jungen Blätter in der Sonne. Wieder mal Glück gehabt, sagt Frau Ess. Gestern, als es nicht aufhören wollte zu regnen, bin ich mir nicht sicher gewesen, ob wir heut die Wäsche draussen würden trocknen können. – Ja, der Föhn, antwortet meine Mutter. Wir werden nach dem Zvieri die Leintücher abnehmen, nicht wahr, Vroni? Vroni nickt. Um diese Zeit allerdings wird Frau Ess sich verabschiedet haben. Noch eine Tasse, Frau Ess? – Wenn ich so frei sein darf. – Und bedienen Sie sich mit Butter und Käse. – Sehr gerne, ein herrlicher Greyerzer. – Vroni, sei so lieb und hol den Kuchen. Vroni geht hinaus, kommt zurück. Die Frauen reden halblaut, eigentlich nur über das, was vor den Augen oder unter den Händen ist. Ihr Gespräch entfernt sich allmählich, wird zum murmelnden Hintergrund, und die Vormittagssonne hüllt mich und meine halb wachträumenden Gedanken in einen warmgoldenen Kokon.

      Geborgen im Schutz der drei Frauen, blicke ich von der einen zur andern. Vronis andächtiges Gesicht scheint darauf zu warten, dass man ihm etwas vorschwindelt. Ich wandere mit den Augen weiter, sehe durch die Ostfenster zu den Kirschbäumen hinüber, die bereits abgeblüht haben, mache einen Sprung in die Tiefe des Bilds, wo die hellgrünen Buchenmassive des Waldrands den Osthorizont schliessen. Ich schwimme jetzt in einem körperwarmen, leicht zu atmenden Element, mir kann nichts geschehen, ich bin zu Hause, dies sind drei Frauen, die eine Pause in der grossen Wäsche eingelegt haben, sie gehören ein bisschen mir, wie auch ich ein bisschen ihnen gehöre, im Flur hinter der verglasten Tür ist der Spielzeugschrank, und ich sitze am Platz des Vaters. Alles ist am richtigen Ort und leicht erreichbar, die Sonne macht die Worte der Frauen hell und wärmt mich; wenn ich die Augen schliesse und sie mir durch die Lider scheinen lasse, tauche ich durchs Rote Meer und weiss: Nie kann es anders werden.

      →ApfelstrudelDampfdreiradLangweilDas TeeserviceVroni B.

      III. Zwang

      Schulhaus

      Dreistöckiger, nach Westen offener Hochparterre-Hufeisenbau, Neurenaissance, 1876/1877; drei Freitreppen im Ehrenhof, zwei unter Säulengiebeln nach den beiden Seitenflügeln für die Schüler; den Lehrern vorbehalten ist der zentrale Aufgang in der Mitte des Haupttrakts unter einem von sechs Säulen getragenen Balkon mit Säulenbalustrade. Er mündet ins säulengestützte, auf Bodenniveau abgesenkte Atrium, von welchem aus zwei Ehrentreppen Richtung Nord und Süd ins erste Obergeschoss steigen. Das Verbot, das Sechssäulenportal vom Ehrenhof her zu betreten, ist in die Hirne der Schüler eingebrannt. Die Hochparterreaufgänge an den Enden der Seitenflügel sowie der gekieste Hof werden während der Pausen von den Schülern der Primarklassen mit Getümmel und Geschrei erfüllt. Unterdessen spazieren am Unterende der Auffahrt im Schatten der Kastanienallee, deren schweres Laub den Ostarm der Ringstrasse um die Altstadt zum Tunnel verdunkelt, die Lehrer.

      Die eigentlichen Schülereingänge jedoch befinden sich am Nord- und Südende des Mitteltrakts, wo die Querflügel abgehen. Nur durch diese Portale erreichen die Insassen der Obergeschosse ihre Klassenzimmer innert straffreier Frist. Das Hasten und Schubsen auf den schmaleren Ecktreppen steht in stossendem Gegensatz zur flüsternden Leere und kassettendeckengeschützten Würde der für die Lehrer reservierten Ehren­treppen und macht klar, wer wer ist.

      Der einzige Zugang in der riesigen Ostfront, genau gegenüber dem Ehrenportal, eine simple Tür, wird wenig benutzt. Zwar stehen die Grossen während der langen Pausen in Grüppchen hier herum. Doch nur den hageren Schulhausabwart Gloor sieht man zuweilen eintreten, dann wieder knarren die Angeln halbe Tage nicht, so dass sich der Eindruck einnistet, er sei verriegelt: Grauzone.

      Das Tabu des Ost-Schlupflochs wird verstärkt durch den Karzer, der sich gleich dahinter befindet. Selten, daher Schrecken verbreitend, ist er bewohnt, denn die dort Versenkten hocken lange. Den Schlüssel trägt Abwart Gloor auf sich. Das Gerücht geht, nach mehrmaligem Aufenthalt im Karzer erfolge der Ausschluss aus der Schule: nach dem absoluten Dunkel – wobei dies umstritten bleibt


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