Die Stimme des Atems. Ernst Halter

Die Stimme des Atems - Ernst Halter


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übe vormittagelang auf der Veranda. Die Hartgummireifen fallen aus den Felgen. Sie werden nicht ersetzt, es gibt während des Krieges kaum derartigen Luxus, auch knirschen und kratzen die Räder fortan metallisch auf dem Beton, und das tönt mir wie die Eisenbahn. Das Dreirad wird zur Lokomotive meines Zugs. Die Glocke wird umfunktioniert: Ich schraube den metallenen Deckel los, klemme trockenen Riesenporling vom kränkelnden Edelkirschbaum ins Läutwerk und drehe den Deckel erneut fest. Mit der Lupe des Vaters entfache ich das Feuer. Schwämme glimmen mit graugelblichem Rauch und beizendem Schmorgeruch und veraschen nur langsam.

      Der Zug ist unter Dampf; ich lege mich bäuchlings auf den hölzernen Sitz, ergreife die Pedale mit den Händen und verkehre knirschend und gierend zwischen dem Westbahnhof vor der Küchentür und der Station am Ostende der Südveranda. Die Glocke tönt erstickt und dumpf, etwas ist ihr in der Kehle steckengeblieben – kein Wunder, wir kommen aus einer rauchbraunen Ferne. Passagiere mit Überseekoffern steigen aus, auf den Perrons wartet ungeduldig die Menge der Urlaubs- und Geschäftsreisenden. Stolze Destinationen schwirren mir im Kopf: Ohne Halt bis St. Petersburg und Paris! An andern Tagen steigen nur Bauern, Arbeiter und Handlungsreisende zu, der Zug hält in Schafhausen und Walkringen. In Oberdiessbach wird er aufs Abstellgleis geschoben. Was würden Grosseltern, Tanten und Onkel von mir denken, wenn ich an ihnen vorüberdonnerte. Ich verbeuge mich höflich.

      →Eiffelturm und LaternenfischEisenbahnFahrt in die NachtKontinenteWaldbahn

      Glasmurmel Achill

      Der Riese unter den Murmeln heisst Ajax, eine Glaskugel von der Grösse eines Holzapfels, in ihrem Innern schlingen sich zwei gelbgrüne Bänder von Pol zu Pol um eine rote Ader herum. Ajax ist matt, plump, ich mag ihn nicht. Neben weiteren, bedeutend kleineren Glasmurmeln – Diomedes, Menelaos, Memnon – gibt es Klicker aus glasiertem Ton, anspruchslos braun, mattblau oder versilbert, Thersites und seine Gesellen.

      Mein Liebling ist Achill. Er trägt Spiegelglanz und ist grösser als der Durchschnitt der andern Glaskrieger. Wolkenähnliche, regelmässig von Pol zu Pol durcheinandergeschlungene Äderungen in Preussischblau, Mehlblau, Seiden- und Pulverblau füllen sein Inneres. Immer wieder taucht der Blick in seine Tiefe. Der Bläuling schliesst Dämmerungen in sich, der Stille Ozean öffnet seine Tiefen, Quallen filtern das Licht. Achill lehrt mich das Wunder der Farbe, ihre Unergründlichkeit, ihre Schönheit ohne Zweck und Grund. Die mystische Kugel ist vielleicht das vollkommenste Ding meiner Kindheit gewesen.

      →Eiffelturm und LaternenfischMutter und MythenOzeanerforschung

      Schüsse

      Sommer im Garten, wir spielen, ich stürme mit einem langen wippenden Grasschwanz, den ich hinten in die kurzen Hosen gestopft habe, über eine Trockenmauer, wiehernd, ein Streitross. Da explodiert der Frieden; nicht weit vom Haus knattern mehrere Schüsse. Der Schreck wirft mich beinahe um: Der Krieg ist ausgebrochen! Schreiend renne ich zur Mutter und stecke den Kopf in ihren Schoss.

      Es braucht etliche Erklärungen und Ääli, bis ich glaube, dass dies nicht Krieg, sondern die Schiessanlage hinter der Reithalle ist, von der ich noch nichts gewusst habe. Mit Mühe lerne ich in den folgenden Monaten, den Fluchtimpuls zu unterdrücken, wenn samstags die Schiesserei wieder losgeht. Seither lässt mich jedes Schrillen und Knallen zusammenzucken, und die Leidenschaft vieler Männer für die Kugel kann ich nicht teilen. Ich habe nie Schiesszeug für Grosse besessen.

      →Alarmsirene und SchlachthausTödlein

      Krieg

      Vater, Mutter, Besucher, Tante Rosa, Tante Sängerin, die Nachbarn, die Waschfrau, der Metzger, die Ladeninhaberin, alle reden vom Krieg. Seit ich mich erinnern kann, ist Krieg, offenbar der Normalzustand der Welt, obwohl jedermann darob unglücklich ist, denn dieser Krieg ist der scheusslichste und grausamste aller Kriege. Kein Tag ohne Hiobsbotschaften und Alarmsirenen, obwohl der Krieg einen Bogen um uns herum macht. Und zuweilen versteckte Zufriedenheit: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

      Die Stuttgarter Innenstadt ausgebrannt, Ulm in Flammen, die Krupp-Werke eine Mondlandschaft, Köln gibt es nicht mehr, der Dom steht noch aufrecht, Feuersturm in Hamburg. Zahlen werden genannt, Hunderttausende, Millionen, vielleicht Tote oder Ermordete oder Kriegsgefangene. Wo ist das Bombardement heut früh um zwei niedergegangen? Die Basler fahren ins Berner Oberland. Wie, unser Schaffhausen ist angegriffen worden? Wir sind doch neutral! Schweres Bombardement über Mailand, die Eltern sehen einander an, offenbar bedeutet ihnen Mailand viel. Le Havre und Caen ein Trümmerhaufen. Die Deutschen sind zum Siegen zurückgekehrt. Ardennenoffensive. Doch die Amerikaner werden dafür sorgen … Zauberwort «Amerikaner». In Warschau steht kein Stein mehr auf dem andern, Würzburg, das Grab am Main, Berlin eine Geisterstadt, die Russen in Schlesien und Ostpreussen, Schweinfurt ausradiert, Frankfurt Schutt und Asche, Nürnberg eine riesige Fackel, Friedrichshafen voll getroffen, Bombenhölle Dresden, Menschenfackeln, Werwolf wütet. Später wieder: Friedrichshafen; der Name lädt sich auf mit den Vorstellungen von Finsternis und Feuerringen des Kriegs. Für immer.

      Es ist Vormittag, die Mutter im Haus oder Garten beschäftigt, Geschwister und Vater in der Schule. Ich schütte den Inhalt meines Tecto-Holzbaukastens auf den Esstisch und spiele Krieg. Ich bin die Deutschen und rüste auf, niedrige Hallen, Hochkamine, Bahnhöfe. Die Stadt heisst Essen. Unter einer Glocke von süsslichem Duft, Laugengestank, Kohlenrauch, ätzenden Stickstoffdünsten dehnen sich Fabriken, Häuser, Kamine bis zum Horizont. Gegen die Tischmitte sind die chemischen Werke angesiedelt, gleich daneben werden in riesigen finstern Hallen Bomben produziert, weiter Panzer, Flugzeuge, Kanonen. Die Deutschen sind bereit loszuschlagen.

      Ich atme tief durch. Unter diesigem Spätherbsthimmel stehen kahl die Wälder herein. Und jetzt bin ich die Amerikaner und komme den Deutschen zuvor. Ich höre meine Bomber im Anflug; das Geräusch geht mir durch die Kehle, nicht anders als in der Nacht, wenn die Geschwader von Süden her die verdunkelte Stadt überfliegen, ein tiefes Dröhnen und Schüttern, dass die Scheiben am Geschirrschrank klirren. Zielgebiet erreicht. Bomben ausklinken! Von allen Seiten schlagen Volltreffer in die Stadt Essen, das Haus zittert schwach. Nach jedem Abwurf begutachte ich die Zerstörung. Noch steht die Giftgasküche. Auch in der Panzerfabrik wird weitergearbeitet. Mir sind die Bomben ausgegangen. Ich suche nach Blindgängern unter den Trümmern und bestücke die Fliegenden Festungen neu. Wjuuuwumm! Quamm! Buurrumm! Alles kaputt. Ein wirres, von Bombenkratern aufgepflügtes Ruinenfeld. Ich höre die Bomber nicht mehr. Die Luft ist seltsam rein, still, hell, als ob die Sonne durchbrechen müsste.

      Wann immer ich heute ein chemisches Werk sehe – Stahlkamine, Gasbehälter, Druckzylinder, Nitrieranlagen, Rohrorgeln, Tanklager und puffende Ventile –, bombardiere ich es in meiner Vorstellung, bis die Flammen tausend Meter in die Nacht emporlodern.

      →Alarmsirene und SchlachthausAmeisen – TodesspielErstickenHochkamine und Sirenen

      Zofinger Tagblatt, 6. März 1943

      Luftangriffe auf Essen

      Die deutschen Rüstungszentren im Ruhrgebiet wurden in der Nacht


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