Wie im Flug. Ursula Stenzel

Wie im Flug - Ursula Stenzel


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meinen Vater. Für ihn und meine Mutter war er ein Albtraum. Nächtelang berieten meine Eltern, wie sich mein Vater verhalten sollte, falls Bürckel nach dem Schöpfer dieses Freskos fragen würde. Er fragte natürlich danach. Denn das Werk war aufsehenerregend. Von Peez stellte meinen Vater vor: als Leiter der Lehrlingsausbildung. Und mein Vater betete zu Gott, dass der Gauleiter und Reichsstatthalter Hitlers in Wien keine Nachforschungen über ihn anstellen und ihn auch niemand aus der Arbeiterschaft denunzieren möge. Der Firmenchefs konnte sich mein Vater sicher sein, aber ein Betriebsrat der Belegschaft meinte einmal, ihm einen guten Rat geben zu müssen: „Herr Stenzel, lossn’s eahna scheid’n.“ Mein Vater antwortete ihm: „Ein deutscher Mann bricht sein Wort nicht.“ Der Dialog war daraufhin beendet, aber die Angst vor Denunziation blieb bestehen.

      Leider ist von den Skizzen, die mein Vater damals für das Fresko anfertigte, um sie in vergrößertem Maßstab an die Wand der Werkshalle zu übertragen, nichts erhalten geblieben. Auch das Fresko fiel dem Bombenangriff auf das Werksgelände zum Opfer.

      Meine Politik als Stadträtin wurde durch dieses Werk und die leidvolle Erfahrung meines Vaters trotzdem beeinflusst: Ich fühle mich diesem historischen Blick auf Wien vom Oberen Belvedere aus besonders verpflichtet und werde in dem Kapitel „Von Brüssel nach Wien und weshalb ich zur FPÖ wechselte“ noch ausführlich darauf eingehen.

      Die Bombardements auf Simmering und auch auf das Firmengelände von Pintsch hat mein Vater überlebt, weil ihn die französischen Zwangsarbeiter vor jedem Angriff gewarnt haben. Sie wussten offenbar durch das Abhören geheimer, streng verbotener Sender und über ihre Widerstandskanäle Bescheid und warnten meinen Vater: „Du morgen nicht kommen, morgen kommen die Bomb!“ Die Firma Pintsch war ein bevorzugtes Zielgebiet, weil sie Bestandteile für die Rüstungsindustrie herstellte. Der Chefbuchhalter Carl von Peez, seine junge dienstverpflichtete Sekretärin Gertha Gloss, die Mutter Alfred Eschwés und seiner Schwester Elisabeth, sowie die französischen Zwangsarbeiter waren die Überlebenshelfer meiner Familie.

      Aber es gab noch andere. Eine der wichtigsten war die Jugendfreundin meines Vaters und beste Freundin meiner Mutter, ihre und meine Taufpatin, die Schriftstellerin Gertrud Steinitz-Metzler.

       Gertrud Steinitz-Metzler und „inser Unnützer“

      Gertrud Steinitz-Metzler war überzeugte Katholikin. Von 1935 bis 1938 war sie Schriftleiterin bei der Wiener Ausgabe der Zeitschrift „Blatt der Hausfrau“, des vor der Arisierung im Ullstein-Verlag erschienenen Vorläuferorgans der späteren Zeitschrift „Brigitte“ und nach 1945 wieder Redakteurin, bis sie ausschließlich als freie Schriftstellerin tätig war.

      Sie ist – meiner Meinung nach zu Unrecht – den meisten nur als Kinderbuchautorin bekannt: „Die Regenbogenbrücke“ und „Das verlorene Wort. Märchen für große und kleine Kinder“ haben meine Kindheit begleitet, obwohl sie mit ihren Analogien und Gleichnissen auch Erwachsenen viel geben können. Ich habe sie als eine sehr kluge, uneitle, reelle Frau in Erinnerung, die mich immer wieder mit Kinder- und Jugendbüchern versorgt hat. Zunächst mit dem isländischen Sagenbuch „Noni und Nani“, später mit der Serie „Gulla“ – damals sehr beliebt, sehr spannend geschrieben, aber aus heutiger Sicht ein völlig veraltetes Mädchenbild verkörpernd, das mich allerdings nicht nachhaltig beeinflusst hat. Einmal habe ich sie in ihrer Wohnung in der Böcklinstraße besucht. Es war um die Weihnachtszeit, und mich beeindruckte die Schlichtheit, mit der sie Weihnachten beging: ohne Krippenromantik, ein kleines Bäumchen mit ein paar Silberfäden genügte ihr. Sie hatte einen intellektuellen Zugang zu ihrem Glauben. Und sie war unbequem und mutig. Die Stelle als Schriftleiterin hatte sie nach dem Anschluss schlagartig zurückgelegt. Unmittelbar danach suchte sie meine Eltern auf. Meine Großmama mütterlicherseits, Klara Jurberger, war damals bereits von ihrer tödlichen Krebserkrankung gezeichnet – sie starb knapp nach dem Novemberpogrom, hatte noch die „Juda-verrecke“-Rufe in der Czerningasse gehört und die Rauchschwaden des brennenden Tempels in der Ferdinandstraße gesehen, die bis zu unseren Fenstern zogen – und sagte zu ihr: „Truderl, wissen Sie, was Sie da tun?“, und Trude, völlig klar: „Ja, ich weiß, was ich tue.“

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      © Privatarchiv

       Gertrud Steinitz-Metzler mit meiner Mutter.

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      © Privatarchiv

       Steinitz-Metzler war eine prägende Persönlichkeit für mich.

      Sie hatte ihre Schriftleiterposition, wie Redakteure nach der Gleichschaltung durch das NSDAP-Gesetz hießen, mit den Worten zurückgelegt, sie sei in dieser Zeit nicht die richtige Frau am richtigen Ort, und widmete sich von dem Moment an gemeinsam mit ihrer Freundin Luise Ungar zunächst der Vorläuferorganisation und ab 1940 der eigentlichen von dem Jesuitenpater Ludger Born geleiteten „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ im dritten Hof des erzbischöflichen Palais. Die bescheidene Unterkunft, in der sie verfolgten konvertierten Juden Hilfe gewährten, nannten sie in Analogie zum Stall von Bethlehem den „Stall“. Dort versuchten sie, den verfolgten Juden zu helfen, ihnen Visa und – wenn möglich – Affidavits, also Bürgschaften für die Aufnahme in einem Gastland zu verschaffen, für die noch bis 1941 mögliche Emigration rechtliche Auskünfte zu geben, den durch Arisierung obdachlos Gewordenen Wohnungen zu besorgen, Medikamente und ärztliche Hilfe zu organisieren … Vor allem aber war der „Stall“ eine Anlaufstelle für Gespräche und Trost in dieser Zeit großer Bedrängnis. Mit Rat und Tat zu helfen, so gut es eben ging, war die Mission dieser Hilfsstelle der katholischen Kirche. Die Diskriminierten und Verfolgten sollten vor Deportation und Gaskammern bewahrt werden. Zwar galt Theresienstadt nicht als Vernichtungslager, viele Juden wurden aber von dort in solche weiter transportiert. Selbst dann versuchte das Team um Pater Born, ihre Spuren zu verfolgen. Tante Trude, wie ich sie nannte, hielt diese ihre Erlebnisse in einem dokumentarischen Roman mit dem Titel „Heimführen werd ich euch von überall her“ fest. Eine Szene aus dieser Dokumentation hat mich besonders berührt.

      Sie schildert die Situation, wie eine Schwester, die in der erzbischöflichen Hilfsstelle arbeitete und noch in letzter Minute vor der Deportation nach den ihr Anvertrauten sehen wollte, von Pater Born eine silberne Puderdose überreicht bekam und diese in der Sammelstelle, wohin man die Juden knapp vor ihrem Abtransport kommandiert hatte, einem jungen Burschen – er war 17 Jahre alt – klammheimlich zusteckte. Der Bursch übernahm sie in dem Chaos und Getümmel vor dem Abtransport, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass ihn keine der Gestapo-Wachen beobachtet hatte. Er behandelte sie mit der Haltung größter Ehrfurcht. In der Puderdose befanden sich konsekrierte, also liturgisch geweihte, Hostien für die versprengte katholische Gemeinde konvertierter Juden in Theresienstadt. Der Junge zählte in den Augen Pater Borns und seines Teams zu den „Verlässlichen“, also jenen Menschen, bei denen man davon überzeugt war, dass sie alles tun würden, um das Sakrament sicher an das Ziel zu bringen.

      Als ich als Erwachsene mit meiner beruflichen und politischen Erfahrung und meinem historischen Wissen das Buch meiner Taufpatin las, war ich entsetzt. Hatten Pater Born und seine Helfer, darunter Nonnen und Laien wie Gertrud Steinitz-Metzler, keine anderen Sorgen, als Hostien nach Theresienstadt zu schmuggeln, von wo viele Juden in die Todeslager deportiert wurden und nicht lebend zurückkamen? Übrigens ein Schicksal, dem auch der junge Überbringer der Hostien nicht entkam. Meine Taufpatin sah dies zweifellos anders, und diese ihre Haltung ist zu respektieren.

      Gertrud Steinitz-Metzler war Augenzeugin dieser Sakramentenübergabe an Georg Pohl – so nennt sie den jungen Mann, der im Bewusstsein einer besonderen Mission die in dem silbernen Döschen verborgenen Hostien übernahm. Sie hat bewusst Pseudonyme verwendet, aus Rücksichtnahme auf mögliche Überlebende. Im Gegensatz zu der heutigen Chatgesellschaft war sie bestrebt, den Schutz der Persönlichkeit zu wahren. Ich schreibe „Szene“, als ob es sich um ein Theaterstück gehandelt hätte; nein, es war kein nachgestelltes Drama, es war die Realität von 1940 bis 1945 in der


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