Der fliegende Holländer. Фредерик Марриет
um das Stück Musselin aufzulesen, »wieviel hast du gelitten, als – Gütiger Himmel!« rief Philipp, plötzlich mit Ungestüm zurückfahrend und den Tisch umstürzend – »gerechter Gott – da ist – da ist wirklich,« und Philipp schlug die Hände zusammen, voll Angst und Entsetzen das Haupt niederbeugend, als er in ganz verändertem und schrecklichem Tone murmelnd beifügte – »der Brief!«
Es war nur zu wahr – unter der Stickerei am Boden hatte Vanderdeckens verhängnisvolles Schreiben gelegen. Hätte ihn Philipp beim Eintritt in das Zimmer, als er vorbereitet war, auf dem Tisch bemerkt, so würde er ihn mit einem gewissen Grad von Fassung aufgenommen haben – aber ihn so zu finden, nachdem er sich schon überredet hatte, das Ganze sei nur eine Selbsttäuschung von Seite seiner Mutter, ohne dass irgend eine übernatürliche Einwirkung stattgefunden hätte – nachdem er bereits geschwelgt in Träumen künftigen Glücks und künftiger Ruhe! Die Erschütterung hielt ihn geraume Zeit voll Schrecken und Erstaunen an seine Stelle gebannt. Mit einemmale waren alle Luftschlösser der letzten zwei Stunden dahin, und wie er sich allmählich von seiner Bestürzung erholte, füllte sich sein Herz mit traurigen Ahnungen. Endlich trat er vor, nahm den Brief auf und verließ in voller Hast das verhängnisvolle Gemach.
»Ich bin außer Stande – wage es nicht, ihn hier zu lesen!« rief er. »Nein, nein, ich muss die Kunde unter dem Gewölbe des freien, beleidigten Himmels empfangen.«
Philipp nahm seinen Hut, verließ die Hütte, schloss mit der Ruhe der Verzweiflung die Tür, steckte den Schlüssel ein und ging fort, ohne zu wissen, wohin.
Viertes Kapitel.
Wenn ein Mensch, der zum Tode verurteilt war und sich bereits in sein Schicksal ergeben halte, unerwartet Begnadigung erhält – wenn er sich erholt hat von der Aufregung, die aus einem Wiederaufleben aller verlorenen Hoffnungen erwuchs, und abermals schwelgt im Hinblicke auf eine frohe Zukunft – dann aber plötzlich finden muss, der Begnadigungsbrief sei widerrufen worden, und er habe dennoch den Tod zu erleiden; falls sich der Leser die Gefühle eines solchen Menschen zu vergegenwärtigen vermag, so ist er etwa im Stande, sich eine Vorstellung von den Empfindungen zu machen, in welchen Philipp die Hütte verließ.
Gleichgültig gegen den Weg, den er einschlug, ging er lange Zeit fort, den Brief in der zusammengeballten Hand und die Zähne fest geschlossen. Nachgerade wurde er ruhiger und setzte sich, atemlos von der Hast seiner Bewegungen, auf eine Bank, wo er sitzen blieb, die Augen auf das gefürchtete Papier geheftet, das er mit beiden Händen auf seinen Knien hielt.
Mechanisch drehte er den Brief um. Das Siegel war schwarz. Philipp seufzte.
»Ich kann ihn jetzt nicht lesen,« dachte er, indem er aufstand, um seine unstete Wanderung wieder aufzunehmen.
Nach einer halben Stunde weiterer Bewegung machte Philipp Halt und blickte nach der niedergehenden Sonne, bis ihm sein Gesicht verging.
»Ich könnte mir vorstellen, sie sei das Auge Gottes,« dachte Philipp, »und vielleicht ist's so. Aber warum, barmherziger Schöpfer, bin ich unter so vielen Millionen auserlesen, eine so furchtbare Aufgabe zu erfüllen?«
Er sah sich nach einer Stelle um, wo er gegen Beobachtung gesichert war, wo er das Siegel erbrechen und die Botschaft aus der Geisterwelt lesen konnte. Nicht weit von der Stelle, wo er stand, befand sich ein kleines Gebüsch am Saume eines Waldes. Er ging darauf zu und setzte sich nieder, um von keinem Vorübergehenden bemerkt zu werden. Abermals blickte er nach der niedergehenden Scheibe des Tages und wurde ruhiger.
»Es ist dein Wille!« rief er; »es ist mein Geschick, und Beides muss erfüllt werden.«
Philipp legte die Hand an das Siegel – das Blut zuckte ihm eiskalt durch die Adern, wenn er seinem Geiste vergegenwärtigte, dass der Brief von keinen sterblichen Händen überliefert wurde, und dass er das Geheimnis eines Gerichteten enthielt. Aber dieser Gerichtete war sein Vater, der nur in diesem Schreiben noch Hoffnung hatte! Es war die einzige Hoffnung seines armen Vaters – dessen Andenken er lieben gelernt hatte, – der ihn um Hilfe anflehte.
»Memme, die ich bin, dass ich so viele Stunden verliere!« rief Philipp, »Jene Sonne dort scheint über dem Berge zu zögern, um mir beim Lesen zu leuchten.«
Für eine kurze Weile versank er in Gedanken und nahm dann seinen ganzen Muth zusammen. Ruhig erbrach er das Siegel, das die Anfangsbuchstaben von dem Namen seines Vaters trug, und las, wie folgt:
An Catharine.
»Einem jener mitleidigen Geister, deren Tränen strömen für die Verbrechen der Sterblichen, ist es gestattet worden, mir zu eröffnen, durch welches Mittel einzig mein fürchterliches Urteil abgewendet werden kann.
Würde es mir nur möglich, an Bord meines Schiffes die heilige Reliquie zu empfangen, auf welche ich den verhängnisvollen Eid schwor, um sie in Demuth zu küssen und über dem geheiligten Holze eine Träne tiefer Zerknirschung zu vergießen, so würde ich Ruhe finden.
Wie dies bewerkstelligt werden kann, oder wer eine so verhängnisvolle Aufgabe vollziehen wird, weiß ich nicht. O Catharine, wir haben einen Sohn – doch nein – nein, lass ihn nichts von mir hören, bete für mich – und nun, lebe wohl.
J. Vanderdecken.«
»Dann ist's also Wahrheit, fürchterliche Wahrheit,« dachte Philipp, »und über meinem Vater ist im Leben das Gericht ergangen. Und er deutet auf mich hin – auf wen anders sollte er auch? Bin ich nicht sein Sohn und ist es nicht meine Pflicht?«
»Ja, Vater,« rief Philipp laut, indem er auf seine Knie niederfiel; »du sollst diese Zeilen nicht vergeblich geschrieben haben. Ich will sie noch einmal lesen.«
Philipp erhob seine Hand; aber obgleich es ihn dünkte, als halte er den Brief noch immer fest, war er doch nicht mehr vorhanden – er hielt ein Nichts umfasst. Er blickte auf das Gras, um zu sehen, ob er ihn habe fallen lassen – aber nein: der Brief war verschwunden. War es ein Gesicht? – Nein, nein; er hatte jedes Wort gelesen.
»Dann galt die Botschaft mir, und Niemand anders, als mir. Ich nehme dies als ein Zeichen an.«
»Höre mich, teurer Vater – wenn es dir gestattet ist – und du, barmherziger Himmel, vernimm gnädig mein Gelübde – höre den Sohn auf die heilige Reliquie schwören, dass er das Urteil abwenden will, und wenn er darüber in den Tod gehen müsste. Dieser heiligen Pflicht will er seine Tage weihen, und wenn er sie erfüllt hat, voll Hoffnung und im Frieden hinfahren. O Himmel, der du den übereilten Eid meines Vaters aufgezeichnet hast, tue nun ein Gleiches mit dem Gelöbnis, das der Sohn auf dasselbe geheiligte Kreuz leistet, und möge mein Meineid mit einer grausameren Strafe heimgesucht werden, als die seinige ist! Höre meinen Schwur, o Himmel, der du in deinem Erbarmen zuletzt noch den Vater und den Sohn aufnehmen wirst – und wenn ich zu kühn bin, o so vergib meiner Anmaßung!«
Philipp warf sich auf sein Antlitz nieder und berührte mit seinen Lippen das geheiligte Symbol. Die Sonne ging unter und auch die Dämmerung wich der Nacht, die Alles in ihr Leichentuch hüllte; aber immer noch verharrte Philipp abwechselnd in Gebeten und Betrachtungen. Da wurde er plötzlich durch die Stimmen einiger Menschen aufgeschreckt, welche sich einige Schritte von seinem Verstecke auf den Rasen niederließen. Er achtete wenig auf ihr Gespräch; aber dennoch hatte es ihn gestört, und sein erster Gedanke war, nach der Hütte zurückzukehren, um seine Plane weiter zu überlegen. Die Männer sprachen in gedämpftem Tone, fesselten übrigens dennoch bald seine Aufmerksamkeit durch den Gegenstand ihrer Unterhaltung, denn sie berührten Mynheer Poots Namen. Er lauschte angelegentlich und entdeckte, dass die Sprecher vier entlassene Soldaten waren, welche noch in der nämlichen Nacht das Haus des kleinen Doktors anzugreifen gedachten, da sie wussten, es dürfte viel Geld bei ihm zu erholen sein.
»Mein Vorschlag ist der beste.« sagte der Eine. »Er hat Niemand bei sich, als seine Tochter.«
»Die ist mir lieber als sein Geld,« versetzte der Andere; »also wohl gemerkt, ehe wir gehen, muss es vollkommen ausgemacht sein, dass sie mir zufallen soll.«
»Ja, wenn du sie kaufen willst, so haben wir