Filme fahren. Ulrike Melzer
Mund zu einem spöttischen Lächeln, das ich noch oft bei ihm sehen sollte. Meistens in Verbindung mit Felix.
Er setzte sich. „Also, was liegt an?“
„Ja, was. Alles und nichts. Also, er. Ja, er. Alles war durcheinander. Wir sind zusammen in seinem Auto gefahren.“ „Ja und?“ „Ja, nichts und. Ich bin 17 und er ist 35! 35! Alt! Und er hat zwei Kinder und ne Frau. Das war´s. Ich war so blöd, wieso ist mir das nicht aufgefallen?“ „Naja, es war dunkel.“
Unter den Kastanien saßen die alten Männer beim Backgammon. Milosch und ich sahen ihnen traurig durchs Fenster zu. Ich fühlte mich noch immer betäubt, fassungslos, aber gleichzeitig war da wieder diese Euphorie. „So, jetzt erzähl mal“, sagte Milosch.
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, vergiss es, vergiss alles. Wahrscheinlich war ich betrunken, es war Nacht, jetzt ist Tag, kann ja mal vorkommen, passiert, egal.“
Er starrte mich nur wortlos an.
„Wie jetzt und das hat er dir alles erzählt oder was?“
„Er hat mich heute ein Stück mit dem Auto mitgenommen, wir haben Oasis gehört.“
Er unterbrach mich. „Stop mal, ihr habt Oasis gehört? Wie alt ist der?“
„Na das ist es ja, 35.“
„Alter, ich dachte da hört man so Schwuchtelmucke: Chansons und Gerhard Schöne und so`n Rotz.“
„Nein, Oasis, und nicht etwa 'Wonderwall'-'Live Forever!'“
„Respekt.“
„Ja … also … er hat mich für ne Studentin gehalten. Und als ich ihm dann die Wahrheit gesagt habe, hätte er beinahe ein Auto gerammt. Und dann bin ich ausgestiegen.“
„Kapier ich nicht. Wenn er sich vom ersten Schock erholt hätte, dann…“
„Nichts dann. Ich bin doch nicht wahnsinnig. Du hättest mal sehen sollen, wie der mich angeschaut hat. So als wäre ich eine Bedrohung.“
„Klar, der hat Angst vor dir.“
Ich lachte, „Angst, ich bin ja auch so gefährlich“.
„Nee, echt jetzt ohne Scheiß, der dachte doch sicher, mit ihm läuft nicht mehr alles rund, dass er jetzt auf 17Jährige steht.“
„Na eben, deshalb vergessen wir das alles ganz schnell.“
„Ach komm, das nehm ich dir nicht ab. Du kannst doch jetzt nicht schon aufgeben! Denkste echt, das hatte nichts zu bedeuten?“
„Was soll das denn bedeuten?“
„Keine Ahnung, aber das ist doch nicht einfach so passiert. Du musst rausfinden, was das zu bedeuten hat. Das wir uns getroffen haben! Du musst hierbleiben.“
„Ich muss doch zur Schule.“
„Ach Schule. Denkst du, ich geh dahin?“
„Und wovon soll ich leben?“
„Mach dir da mal keine Sorgen. Irgendwer hat immer Geld, ich oder Karen. Und du kannst doch auch Flaschen aufsammeln, oder Dope verticken, oder als Barfrau arbeiten.“
„Ich bin erst 17.“
„Na und? Im Ausweise Fälschen bin ich gut.“
„Und wo soll ich wohnen?“
„Na bei Karen natürlich.“
Er legte den Arm um meine Schultern: „Du bist jetzt meine kleine Schwester, klar?“
Dass es Liebe einfach so gab, Freundschaft ohne Hintergedanken, das war völlig neu für mich. Das kannte ich nicht, aber es schien normal zu sein in dieser Welt. Für Milosch war das keine große Sache. Wen er in sein Herz schloss, blieb da, doch es waren nicht viele. Man musste sich seine Freundschaft nicht verdienen. Ich lernte langsam, keine Fragen zu stellen.
Später erfuhr ich, dass Milosch der Adoptivsohn von Christoph ist, der in den Rundbriefen nie erwähnt wurde.
Milosch hasste ihn.
Warum, war mir noch nicht ganz klar. Es hatte was mit seinen Eltern zu tun, die unter rätselhaften Umständen verschwunden waren.
Milosch traute Christoph nicht, weil seine Eltern ihm nie getraut hatten, weil Wladi ihn nicht mochte.
Milosch lebte auf der Straße, im Palace, bei Wladi, der sich als Sozialarbeiter offiziell um ihn kümmerte. Inoffiziell war er der echte Adoptivvater, denn er hatte Miloschs Eltern noch gekannt, denen er weggenommen wurde, Sieben war er da gewesen, seine Kindheit hatte er in einem Erziehungsheim verbracht.
Beide, Wladi und Milosch, hatten einen Teil ihres Lebens im Gefängnis verbracht,
sie glaubten, die Hälfte ihres Lebens verpasst zu haben.
Christoph ging es gut, immer ging es ihm gut.
Während seine Freunde aus der Gemeinde Demos planten,
machte er Karriere.
Und jetzt versuchte er verzweifelt, den Schein zu wahren.
„Kommst du mit, wenn Familientag ist?
Ich pack das nicht ohne dich.“ Ich versprach es.
Feiern - Kapitel 5
Ich ging oft mit Milosch zu Wladi, nachmittags saßen wir auf dem Balkon seiner Dachwohnung, manchmal kam Tamara vorbei und machte uns Yogitee. Tamara musste man einfach mögen, sie drängte sich nicht auf, hörte zu und warf manchmal was ein, in Berlinerisch mit russischem Akzent.
Sie trug lange Röcke, kurze rote Haare und immer Make-up. Wladi redete nie über sich. Dass er im Stasiknast war, hatte er nur einmal kurz erwähnt. Am liebsten redete er von Europa, von Istanbul, Paris, Rom, Athen. Er kannte jede Sprache und kannte sich so gut in diesen Städten aus, dass man kaum glauben konnte, dass er noch nie da gewesen war und auch nie hinwollte. „Träume sind nicht da um sie auszuleben. Du musst sie kultivieren.“ „Versteh ich nicht.“, sagte Milosch dann. „Das kannst du auch nicht verstehen“, sagte Wladi, milde lächelnd. „Ihr jungen Leute, ihr denkt doch, man müsste jeden Traum leben, Träume sind Schäume, das haben sie uns in der DDR auch immer gesagt. „Thälmann hat auch nie geträumt, er war ein Mann der Tat! Wo wären wir denn heute, wenn er sein Leben verträumt hätte?“, imitierte er einen seiner Lehrer. Wladi hatte sich viel anhören müssen von Lehrern, Eltern, Klassenkameraden, später dann von der Stasi. „Träume sind kleine Diamanten, ihr müsst auf sie aufpassen und aufbewahren.“ Auf dem Rückweg wollte Milosch ins Wohnzimmer. „Warum willst du ständig dahin?“
Irgendwas war anders geworden, Milosch hatte sich verändert. Dass es an Judith lag, darauf kam Karen. Als wir heute ins Wohnzimmer kamen, merkte ich, wie nervös Milosch war, seine Füße standen nicht still.
Als Judith kam, um die Bestellung aufzunehmen, sah er sie mit großen Augen an, fast flehend, verzweifelt, und sie war auch anders geworden, aufmerksamer.
„Wollen wir uns mal treffen, um über alte Zeiten zu reden?“ fragte er.
Judith wirkte überrascht, lächelte, doch da sie stets und ständig lächelte, wurde es für Milosch schwer, aus ihrem Lächeln etwas zu lesen. Darin etwas zu sehen, das nur ihm gehörte. „Du kannst ja mal kommen, wenn hier nicht so viel los ist, gegen 18 Uhr. Da habe ich immer Zeit.“
Milosch grinste selig und ich wollte ihm nicht den Spaß verderben, indem ich ihn darauf aufmerksam machte, wie gleichgültig und beiläufig dieser Vorschlag klang.
An der Theke stand Felix, der Typ mit langen, schwarzen Haaren. Schnell eilte er herbei, um den euphorischen Milosch auszufragen. Wer er denn sei, woher sie sich kennen...und woher er käme. „Aus Berlin“, erwiderte Milosch. „Und wo liegen deine Wurzeln?“ „Ostberlin“. „Na, weil du so mediterran aussiehst.“ „Ich bin Albaner“, sagte Milosch todernst.
„Ach Quatsch“, rief Judith. „Er ist Sinti.“