Virginia Rose. Hanna Marten
zuckte mit den Schultern. „Deine Besitzerin scheint zu oft die Bibel mit dir durchgegangen zu sein. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was auf mich zukommt. Vielleicht beschließt die Königin ja doch, mich …“, ich verstummte. Der Gedanke war mir bereits heute Morgen gekommen, als ich mit Max auf dem Weg zu ihr war. Rief sie mich womöglich zu sich? Hatte ich meine Zeit in diesem Tal verbüßt?
Ein lautes Platschen lenkte mich ab, als Max aufgeregt ins Wasser sprang und sich sogleich mit der Schnauze auf die Suche nach Fischen begab. Ich setzte mich auf den niedrigen Hang, der vor der dunklen Wasseroberfläche in Sand überging, und sah ihm eine Weile zu. Mit der Handfläche strich ich über das gefrorene Gras und konzentrierte mich dabei auf die Energie, die durch meine Finger pulsierte. Ich sah hinab und bemerkte, wie der Frost sich zurückzog und die Fläche unterhalb meiner Hand trocken und saftig grün geworden war.
Zugleich verschwamm mein Blickfeld und ein Stechen jagte durch meinen Kopf. Mit beiden Händen krallte ich mich am Boden fest.
Meine Kräfte waren noch nicht wiederhergestellt. Normalerweise beschleunigte der Frühling meine Regeneration, doch dieses Jahr spielte scheinbar alles verrückt.
Ich stand langsam auf, ohne Max in seinem Bestreben, einen Fisch zu fangen, zu unterbrechen, und ging schnellen Schrittes den Hang hinauf zum Wanderweg. Neben dem Besucherparkplatz befand sich eine Koppel, die einem örtlichen Bauern gehörte. Drei Pferde standen dort und blickten mir entgegen, als ich auftauchte.
„Hey, da ist ja diese Fee wieder. Victoria, was ist los, du siehst so gestresst aus?“, rief mir eines der Pferde nach. Ich ignorierte es geflissentlich. Bei Tieren war es wie bei Menschen: Manchen Individuen hörte man am besten nicht zu. Mein Ziel war eine kleine Scheune, etwa fünfzehn Minuten von der Klostersiedlung entfernt.
Als ich mich näherte, vernahm ich eine tiefe freundliche Stimme:
„Höre ich da die Schritte meiner liebsten Fee in diesem Tal?“
Ich lächelte und trat durch den Spalt, den die Scheunentür gelassen hatte.
„Hallo, Merlin.“
Vor hoch aufgetürmten Strohballen stand ein rotbraunes Shetland-Pony und kaute genüsslich. Offenbar war allerorts gerade Frühstückszeit für die Lebewesen, die Nahrung zu sich nahmen. Ich setzte mich auf einen hervorstehenden Haufen Stroh zu Merlin, der neben Max ein weiterer meiner tierischen Freunde war.
Sein Besitzer bot ihn und andere seiner Pferde für Ausritte in die Umgebung an. Von Max wusste ich, dass dieser sich häufig in die Scheune zum Schlafen begab, wenn er es nicht schaffte, in das Hotel einzudringen, um dort zu übernachten.
Merlin, der den vorlauten Hund aufgrund seines Alters ungern in seiner Nähe hatte, war ein ruhiges, in die Jahre gekommenes Pony, dessen Art ich seit vielen Jahren schätzte.
„Ich bin zu früh aufgewacht, Merlin. Ist dir während des Winters etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Naturphänomene oder Tiere, die sich seltsam verhalten haben?“, fragte ich ihn.
Merlin schnaubte. „Nein, Victoria, da gab es nichts. Der Schnee kam früh im letzten Jahr und er verschwand auch früh in diesem Jahr. Doch bis heute gibt es keine Anzeichen des Frühlings hier. Es ist kalt und ab und zu regnet es. Ich fürchte, ich kann dir keine Antworten darauf geben.“
Enttäuscht, dass auch Merlin keine Hilfe war, nickte ich.
„Na gut, trotzdem danke. Ich habe bereits versucht, Gras zum Wachsen zu bringen, doch mein Körper ist zu schwach. Es funktioniert, doch ich verbrauche zu viel Energie. Wenn der Frühling weiter ausbleibt, werde ich schwächer.“
Merlin kam zu mir und stupste mich mit seinem Kopf an.
„Du weißt, dass du noch nicht überall nach Antworten gesucht hast, Victoria.“
Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Jacke. „Was meinst du?“
Wieder ein Schnauben, doch dieses Mal klang es verärgert.
„Du bist eine mutige clevere Fee, Kindchen. Diese Siedlung und das Land sind noch tief mit Legenden wie deiner verbunden und sicher weiß unter den Menschen jemand Rat.“
Ich runzelte skeptisch die Stirn. „Ich spreche nicht mit Menschen, Merlin. Das weißt du doch.“
„Und wenn schon. Du brauchst Hilfe. Geh auf ein paar Einheimische zu, benutze deine Fantasie und beschaffe dir Informationen. Das sind nicht die Menschen von damals, die dir wehgetan haben, vergiss das nicht.“
Ich ging zur Scheunentür. „Ich vertraue keinem Menschen. Lieber lege ich mich noch einmal in einen Winterschlaf, als einen von ihnen um Rat oder Hilfe zu bitten.“
Aufgewühlt machte ich mich auf den Weg zurück. Ich achtete nicht darauf, wo ich hinging. In meinen Gedanken wanderte ich zurück in die Vergangenheit, dorthin, wo er auf mich wartete: mein Geliebter, von dem ich seit langer Zeit getrennt war.
Ich atmete tief ein und kniff die Augen zusammen. Um mich herum war es still, ein paar Vögel zwitscherten und das leise Plätschern einer Quelle drang in mein Ohr. Ich musste aufhören, an ihn zu denken.
Vor langer Zeit hatte die Erinnerung mich beinahe umgebracht, die Natur war vernachlässigt worden, weil meine Gefühle in mir getobt hatten. Tagelang hatte es geregnet, die Seen waren über die Ufer getreten und sämtliche Wege mussten abgesperrt werden.
Das war vor langer Zeit. Heute hatte ich meine Gefühle im Griff, doch in meinem Herzen lebte er mit jedem Schlag weiter.
Aber ich wurde schwächer, je länger der Frühling ausblieb und ich mich nicht in meinem Schlaf befand. Mir würde die Chance verwehrt bleiben, ihn durch mein Versprechen am Leben zu halten …
Ich atmete aus und öffnete die Augen. Merlin hatte recht: Es war an der Zeit, meine Vorbehalte den Menschen gegenüber abzulegen.
Ich musste wissen, was hier los war, warum das Schicksal entschieden hatte, mich aufzuwecken.
Kapitel 4
An diesem Abend saß Julian in Abbey’s Tavern in der Nähe des Hafens und trank sein fünftes Glas Cola, als Jack durch die Tür kam. Seinem geduckten Gang nach zu urteilen, waren Pubs nicht seine Welt, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit.
Nachdem er vorgeschlagen hatte, am morgigen Sonntag als Gruppe nach Glendalough zu fahren, hatte er Leslie und Brian zusammengetrommelt, die, wenn auch widerstrebend, zusagten. Julian, der seine Freunde nicht hängen lassen wollte, willigte auch ein. Doch Jack hatte recht mit dem gehabt, was er zu ihm gesagt hatte, auch wenn Julian es lange nicht wahrhaben wollte: Er hatte sich in letzter Zeit verändert und nun litten seine Freunde, vor allem Leslie, darunter: an seiner gereizten Stimmung und der Abweisung, mit der er sie seit Tagen behandelte.
„Hey“, begrüßte Julian seinen Freund, als er sich zu ihm an den Tisch setzte.
„Sorry, aber ich habe mich auf dem Weg hierher zweimal verfahren“, sagte Jack wutschnaubend und hievte seine Laptoptasche auf den Stuhl neben sich.
„Kein Problem. Die Band ist super und es lohnt sich, Trinkgeld zu geben“, bemerkte Julian unwirsch.
Jack bestellte sich beim Kellner ebenfalls eine Cola und sah Julian gespannt an. „Also, raus damit, Kumpel. Wo brennt es?“
Julian seufzte. „Mein Vater …“, setzte er an, doch Jack hob die Hand. „Ich weiß, dass es unhöflich ist, dich so zu unterbrechen, aber ich muss es tun. Ist das ein Problem, wobei ich dir wirklich helfen kann? Ich meine, du hattest bereits einige Schwierigkeiten mit deinem Alten, den du höchstens zu den Feiertagen und in der Glotze in den Nachrichten zu Gesicht bekommst. Meiner Erfahrung nach solltest du, egal worum es sich handelt …”
„Diane hat vor ein paar Tagen ein Ultraschallbild in seiner Wäsche entdeckt“, fuhr Julian ihm dazwischen. Jack blieb mitten im Wort die Luft weg.
„Und es war definitiv