Showdown Jerusalem. Hans J Muth
Dann war er plötzlich hellwach.
Er ahnte sofort, dass ihm das, was sich ihm dort auf der Mattscheibe des Computers eröffnete, zahlreiche schlaflose Nächte bereiten würde.
Die Schriftzeichen, die sich ihm offenbarten, kannte er. Er hatte dergleichen in seiner Laufbahn in zahlreichen Schriften der christlichen Vergangenheit entziffert. Er war einer der wenigen christlichen Theologen, die mit der Umgangssprache Christi vertraut waren. Dem Aramäischen.
Er rückte seinen Stuhl näher an das Gerät und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm. Was er dort sah, hielt er für einen Brief. Natürlich. Der Dateiname hatte es ja bereits angekündigt: Brief01.jpg. Doch dieser Brief musste sehr alt sein, das erkannte Tremante an der Struktur.
Ein Apostelbrief!
Ja, es könnte sich um die Fotografie eines Apostelbriefes handeln. Tremante nickte, doch dann stutzte er.
Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Satz endgültig entziffert hatte, bemerkte er doch, dass der Satz am Ende des Briefes mitten in seinem Gefüge endete.
Enttäuschung machte sich breit auf seinem Gesicht. Vor ihm eine Kopie von offensichtlich mehreren Seiten eines Briefes, der seiner ersten Einschätzung zufolge vor rund zweitausend Jahren verfasst worden war. Aber wo waren die anderen Seiten? Aus wie viel Seiten bestand dieser Brief? Oder gab es deren mehrere?
Tremante zog ein Taschentuch aus dem linken Ärmel seiner Soutane und wischte sich damit über die feuchte Stirn.
Dann begann er zu lesen, Buchstaben für Buchstaben, Silbe für Silbe, Wort für Wort, Satz für Satz. Je mehr er die Schrift auf dem Bildschirm entzifferte, umso schwerer wurde sein Atem. Seine Hände zitterten. Was sich ihm hier mit der Technik der neuesten Errungenschaft auf einem virtuellen sichtbar gemachten Pergament der Vergangenheit offenbarte, war unfassbar. So unfassbar, dass es nie die Öffentlichkeit erreichen durfte, das erkannte er sofort.
Was sollte er tun? Sein Wissen für sich behalten?
Er überlegte kurz. Nein! Der Inhaber der Kamera ist ermordet worden. Wenn diese Tat etwas mit dieser Schrift zu tun hatte, dann wusste außer ihm zumindest ein weiterer Mensch davon. Der Mörder!
Wer war dieser Mann? Wer war der Tote? Wie gelangte er in den Besitz dieser Dokumente? Wer wusste noch davon?
Das Geheimnis, –bis zu diesem Zeitpunkt war es durchaus als ein solches zu bezeichnen, würde keines bleiben. Irgendwann würde eine Gazette davon Wind bekommen und schließlich würde es sich um die ganze Welt verbreiten. Nicht auszudenken. Es musste etwas geschehen. Tremante griff zum Telefon und wählte eine hausinterne Nummer.
„Eminenz, ich muss Sie dringend sprechen.“
Mit zitternder, aber ruhiger Stimme redete er auf seinen Gesprächspartner ein und nickte mehrmals zur Bestätigung. Kardinal Bendetto Camorra war kein Mann von vielen Worten. Wenige Minuten später stand Tremante vor ihm in seinem riesigen Büro, den Laptop unter seinem Arm.
Wortlos starrte der Kardinal auf das virtuelle Schreiben auf dem Bildschirm und murmelte den Text langsam vor sich hin. Dann riss er seinen Blick von dem Brief, der ihm einen derart großen Schrecken eingejagt hatte und durchschritt den Raum, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Gedanken krampfhaft sammelnd.
Kein Zweifel, das Papier war echt. Es musste echt sein, wenn seinetwegen ein Mensch sterben musste. Sicher, er würde es genauestens auf seine Herkunft überprüfen. Doch das hatte Zeit. Auch auf die Gefahr, dass eine Fälschung vorlag, er würde kein Risiko eingehen. Schließlich wandte er sich Tremante zu.
„Wie ist Ihr Eindruck?“
Tremante atmete tief durch. „Ich glaube, es ist noch zu früh, eine Expertise zu wagen. Auf den ersten Blick erinnert dieses Schriftstück an jene Apostelbriefe, die uns Aufschluss geben über das Leben und Wirken Jesu Christi.“
„Die Echtheit?“ Der Kardinal beugte sich erneut über den Laptop und sog den Inhalt des Schreibens zum wiederholten Male in sich auf. „Was ist mit der Echtheit dieses Schreibens? Wer sagt uns, dass es nicht eine Fälschung ist, mit der man ein Geschäft machen wollte?“
„Sie meinen, der Mörder habe dieses Schreiben selbst erstellt …“
„Was mit den Mitteln der heutigen Technik für einen mittelmäßigen Anwender keinerlei Schwierigkeit mehr darstellt.“
„Aber Eminenz“, gab Tremante zu bedenken. „Dann musste der Fälscher Kenntnisse in der aramäischen Sprache haben oder besser, er musste diese Sprache beherrschen und sie der damaligen Zeit im Ausdruck anpassen. Überdies glaube ich nicht, dass jemand so dumm sein kann, Vertretern des Vatikans die Fälschung einer Schrift vorzulegen, von der er annehmen muss, dass wir ihren Wahrheitsgehalt letztendlich bestimmen können.“
Kardinal Camorra nickte. „Wir können uns kein Urteil erlauben, ehe wir nicht im Besitz der restlichen Briefseiten sind. Doch bislang fehlen uns die Identität des Verfassers und der Name des Empfängers.“
„Ebenso ein Gebet für den Empfänger und ein Segenswunsch, wie es für die Apostelbriefe typisch ist“, ergänzte Tremante.
„Wenn es kein Apostel war … wer war der Schreiber dann?“
Tremante überhörte die Frage seines Vorgesetzten und sinnierte: „Dieses Schreiben ist in Aramäisch verfasst und nicht in Griechisch wie die meisten der uns bekannten Apostelbriefe. Aramäisch war die Sprache unseres Herrn, wobei einige der jüngeren Bücher des Alten Testaments bereits auf Griechisch verfasst wurden. Wir wissen, dass Hebräisch in den letzten Jahrhunderten vor Christus und auch zurzeit Jesu eine tote Sprache war. Die Umgangssprache war zu dieser Zeit Aramäisch, die Schriftsprache der Gebildeten aber Griechisch. Also müssen wir doch daraus schließen, dass der Schreiber offensichtlich ein einfacher Mann war.“
„Ein einfacher Mann wohl. Aber er war keiner der uns bekannten Apostel. Das, was hier andeutungsweise zu entziffern ist …“
Der Kardinal hielt mitten im Satz inne. „Monsignore, wir müssen etwas unternehmen. Sofort! Die Zeit wird uns davonlaufen und es ist nicht auszudenken, was geschieht, wenn es uns nicht gelingt, die restlichen Pergament-Seiten in unseren Besitz zu bekommen.“
Er blieb unmittelbar vor Tremante stehen, so dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des Monsignore entfernt war und sah ihm direkt in die Augen.
„Sie, Tremante, werden das in die Hand nehmen. Ich verfüge hiermit, dass Sie den Vatikan verlassen und in weltlichem Gewand für Gott und die Menschheit das Original finden werden. Und nicht nur diese eine Seite. Wir brauchen den kompletten Brief, wenn der christliche Friede in Zukunft gewährleistet sein soll.“
„Aber Eminenz, wie stellen Sie sich das vor? Wo soll ich mit der Suche beginnen? Es existieren keinerlei Anhaltspunkte …!“
„Finden Sie heraus, wie der Tote an diese Fotografie gelangt ist. Finden Sie den Mörder, bevor die Polizei es tut. Heften Sie sich an seine Fersen. Dann werden Sie an Ihr Ziel gelangen!“
„Man wird uns die Briefe nicht einfach so herausgeben.“ Tremante atmete schwer. „Ich kann doch nicht mit Gewalt …?“
„Denken Sie stets daran, was auf dem Spiel steht“, sagte Camorra leise, fast zischend. „Jesus Christus ist für die gesamte Menschheit gestorben.“
Das Gesicht des Kardinals war auf einmal wie verwandelt. Fast liebevoll sah er Tremante an, als er sagte: „Auch du hast nun einen Auftrag für die Christenheit zu erfüllen, mein Sohn. Und nun geh! Du wirst den richtigen Weg schon finden!“
*
Jean-Pierre Merlot stoppte seinen unscheinbaren Fiat vor einem bestimmten Anwesen an der Piazza del Castello. Dann beobachtete er das Haus aus seinem Wagen heraus.
In der vierten Etage befand sich die Wohnung von Luigi Zanolla. Er kannte sie. Erst gestern hatte er mit Luigi die halbe Nacht dort durchgesoffen. Es war eine interessante Nacht gewesen, zumindest für ihn. Der Alkohol hatte Zanollas Zunge gelöst und ihm Einblicke in Dinge gegeben, die