Notizen vor Tagesanbruch. Sergio Vesely

Notizen vor Tagesanbruch - Sergio Vesely


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ihr sie findet

       sagt ihr, dass ich noch lebe

       sagt ihr, dass ich sie liebe

      Im Herbst

       kommen die Leute noch einmal an und

       sagen man hätte nun auch Mariana gesehen

       mit geschorenem Kopf

       und zerrissenem Kleid

       schreibt sie auf einen Zettel

      ich heiße Mariana benachrichtigt Raúl

       das heißt wenn ihr ihn findet

       sagt ihm, dass ich durchhalten werde

       sagt ihm, dass wir uns

       wiedersehen werden

       und zwar ganz bestimmt

      Versteht sich

       wie das immer ist:

       diese Zettel kamen natürlich nie an

       auf tausend Umwegen kommen sie

       stattdessen zusammen in einem Ordner

       der auf meinem Schreibtisch steht

       und den Namen von Mariana trägt

       und den Namen von Raúl trägt

       und das Datum eines Frühlingsdienstags

       und zwei Nummern

       zwanzigtausendvierhundertvierundfünfzig

       zwanzigtausendvierhundertfünfundfünfzig

      Nun besitze ich schon mehr:

       den noch immer sehr sachlichen

       und sehr ausgewogenen Bericht

       die kleine Zeitungsmeldung

       das Foto

       und diese beiden Zettel

       die nicht mehr richtig angekommen sind

      der eine übrigens von Zigarettenpapier

       der andere von einem Fetzen

       schmutzigem Karton

      Im Winter

       erhalte ich einen Brief

       in dem steht

       dass Raúl gestorben ist

       an einem Leberriss

      von einem Militärstiefel

       sagen die Leute

      er starb im Herbst

       ziemlich genau als Mariana ihm versprach

       dass sie ihn wiedersehen wird

       und zwar ganz bestimmt

      Und heute morgen endlich

       bevor ich diese Zeilen schrieb

       hatte ich noch einen Brief bekommen

       in dem stand

       dass man die nackte Leiche einer Frau

       im Straßengraben fand

       an der schon fast gewohnten Straße

       von Buenos Aires nach Ezeiza

       zwei Dinge hatte die Frau noch am Leib

      auf ihrem Oberschenkel

       eingebrannt ein Wort

       Demokratenhure

      und um den Finger einen Ring

       der so fest saß

       dass nicht einmal das Militär

       ihn stehlen konnte.

      Irgend jemand kam daher

       machte ein Foto davon:

       aus einem Luftpostbriefumschlag

       mit Heldenmarken drauf und einem

       unverrutschten Stempel

       fällt mir ein Foto entgegen

       von einem Ring aus einfachem Gold

       und gerade mit der Lupe noch

       zu lesen eine Schrift

      26. März in Liebe

       für Mariana

       von Raúl

      das heißt

       es muss sie also doch gegeben haben.

      Nachtrag

      Diesen Ordner übrigens mit

       dem bis zuletzt sachlich gebliebenen Bericht

       mit der kleinen Zeitungsmeldung

       mit den beiden Zetteln

       aus Zigarettenpapier und aus Karton

       und einigen inzwischen überflüssig

       gewordenen Briefen

       schickte ich an die Kinder.

      Etwas anderes

       gab es nicht mehr zu tun.

      Zwei Dinge aber

       habe ich behalten:

       das Foto eines aufgeschnittenen Hochzeitsringes

       und das mit drei albernen Kindern

       und Mariana

       und Raúl

      Damit außer den amtlich

       niemals identifizierten Leichen

       noch etwas übrig bleibt

       ein Beweis

       von Raúl, von Mariana, verheiratet

       drei Kinder, wohnhaft ehemals

       auf einer kleinen Farm

       tief drin und irgendwo im Land

      Und ein Beweis von denen

       die einmal Antwort geben müssen

       auf die Frage

       wo sie denn waren

       als wir sie dringend brauchten.

      Die Trauer

      Vielleicht, vielleicht ist die Trauer

       eine frierende Blüte die in sich

       schon die Ahnung neuen Lebens birgt.

       Vielleicht.

      Vielleicht ist der Schmerz ein drängender

       Samen, ein Bote, der nach Veränderung ruft

       oder ein brüchiger Stein in der Mauer.

       Vielleicht.

      Vielleicht sind die Mitleidenden

       wie wachsame Tiere,

       die das nahende Unheil spüren

       und die Gefahr für die eigene Haut.

       Vielleicht.

      Den Klagenden aber ist nicht zu trauen

       und nicht den Schmerzerfüllten

       nicht den Mitleidigen.

       Der Gang der Gebeugten führt nirgendwohin.

      Nutzlos ist die Trauer ohne den Zorn, ohne

       den Willen, nie wieder beiseite zu stehen

       und ohne die Waffen der hellen

       ungeduldigen Vernunft.

      Vielleicht, vielleicht ist die Trauer

       eine frierende Blüte, ein brüchiger Stein

       ein wachsames Tier.

       Vielleicht.

      Gesenkte Köpfe aber

       verhindern den aufrechten Gang.

      Das größte Übel

      Weder der Krieg

       noch der internationale Rüstungshandel

       weder der


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