Notizen vor Tagesanbruch. Sergio Vesely

Notizen vor Tagesanbruch - Sergio Vesely


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Boden der Zelle entwerfen.

      Was kann ich tun

       um Dir ein Bild zu zeichnen

       von dem Hass, der meine Träume bedroht

       von meinen täglichen Kämpfen

       gegen die Peitschenschläge der Sehnsucht

       und von dem Wahnsinn, der langsam

       an den Schatten der Mauern emporsteigt.

      Was kann ich schließlich tun

       um diesen winzigen Raum

       in Deinen Gedanken

       möglich zu machen, damit Du mich sehen kannst dort, wo ich jeden Abend zum Schlafen mich lege

       damit Du mich für ein Weilchen begleitest

       und bei mir bleibst, Seite an Seite

       beruhigend

       schweigsam

       und still.

      Ich verstehe den Rauch

      Ich verstehe

       den Rauch meiner Zigarette.

      In seinem Drang, frei zu sein

       dehnt er sich

       löst er sich auf.

      Der Raum der Freiheit

      (Nach einem anonymen Textfragment

       aus einem Gefängnis in Argentinien)

      Dieser Tag war sehr lang. Von neun Uhr bis

       fünf Uhr arbeiten sie und ich kann nun

       meinen Körper nicht mehr beherrschen.

       Meine Haut ist ein Kraterfeld, ein

       Niemandsland zwischen den Fronten

       ein Netz aus geprügelten Zellen, verbrannt

       schmerzend, vom Fieber gerötet.

       Ich kann weder stehen noch liegen. Ich gehe

       auf und ab und weiß,

       dass ich ab morgen nicht mehr gehen kann.

       Morgen werden sie meine Fußsohlen töten.

       Den Raum aber, der unter meiner Haut liegt

       und selbst noch hinter meinen Knochen

       den Raum des Horizontes

       der in jedem Körper eingeschlossen ist

       den Raum der Freiheit berühren sie nicht.

      Aber missverstehe mich nicht: Ich werde

       auch morgen kein Held sein. Es gibt keine

       Helden, außer in Feierstunden und unter den

       Toten. Ich werde wieder schreien und mich

       wieder übergeben. Ich werde erniedrigt sein

       noch einmal, noch einmal ein Bündel

       Entsetzen sein, fassungslos brüllend, für

       Momente gestorben. Aber ich werde wieder

       ein Mensch sein, ein Teil der Schöpfung, die

       sich die Würde niemals nehmen lässt.

       Ich werde stolz sein,

       mitten im Hagel der Demütigung.

       Ich werde jedes Geständnis unterschreiben

       jedes wahre, jedes falsche. Ich werde, wenn

       es nichts mehr zu ertragen gibt, vielleicht

       meine eigene Mutter verleumden

       ich werde auf Knien betteln, ich werde alles

       sagen, was man von mir hören will.

      Aber ich werde kein einziges Wort verlieren,

       keine Geste, keine Bezeichnung, keinen

       Ausdruck über mein Dasein als Mensch.

      Zeig Würde, Mutter

      Zeig Würde, Mutter

       wenn Du das Gefängnis betrittst

       wenn Du darum bittest

       mich sprechen zu dürfen.

      Beuge Dich nicht vor ihnen

       erniedrige Dich nicht.

       Sie sollen die Verachtung

       in Deinen Augen spüren

       und fühlen, wie eine Mutter sie beschämt.

      Vor allem aber

       lass sie keine einzige Träne sehen

       erlaube ihnen niemals

       sich an Deinem Schmerz zu weiden.

      Niemals zuvor

      Niemals zuvor

       hat mir die Luft so sehr gefehlt

       die ich zum Leben brauch’

      Niemals zuvor

       hab’ ich, um nicht zu sterben

       ein Lächeln so gesucht

      Niemals zuvor

       hab’ ich so kompromisslos lieben müssen

       um dem Hinterhalt des Hasses zu entgehen.

      Nebenan

      (geschrieben im Gefängnis von Valparaiso)

      Zwanzig Minuten von hier

       liegt Viña del Mar, die Gartenstadt

       mit ihren Stränden von weißem Sand

       mit ihren reichen Touristen

       ihren Marinekadetten

       ihren Funktionären

       ihren Devisen

       und mit dem Schloss, wo

       der Diktator Urlaub hält

       umgeben von seinem Hofstaat der Henker.

      Sie weiß von alledem. Aber

       sie zieht es vor, mich zu besuchen

       mich

       in dem brüchigen, stinkenden Gefängnis

       in dem ich bin, und mir

       dort leise in das Ohr zu flüstern:

      Noch dieses Jahr fällt der Tyrann...

      Gefängniswärter

      Geh auf Deiner Mauer spazieren

       befiehl mir, die Kerze zu löschen

       puste in Deine Trillerpfeife bis

       kein Atem übrigbleibt und

       sperr mich hinter Schloss und Riegel ein

      Was kümmerst Du mich

      Ich werde von einem Mädchen geliebt

       Sie wird mich am Besuchstag umarmen

       mich

      Während Du in Deinem Wachturm

       verlassen

       am Daumen lutschst.

      Wenn sie mich besucht

      Wenn sie mich besucht

       schere ich mich einen Dreck

       um den Einheitsfraß

       den dreimal täglichen Appell

       den Geruch von Scheiße über dem Kübel

       und um das Urteil.

      Die Spur

      Solange ich nicht aufhöre

       die offene Klarheit

      


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