Der Auftrag. Ralf Wider

Der Auftrag - Ralf Wider


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sie spielte mit Bravour darüber hinweg und verkündete mit ihrem Zahnpasta-Lächeln: "Master Paris erwartet Ihren Anruf. Ich stelle Sie durch."

      Eine Sekunde später erschien die breitschultrige, grossgewachsene Gestalt von Master Paris auf dem Schirm. Er hatte sich abgewendet und beugte sich zu einem Mitarbeiter herunter, der vor einer Reihe von Bildschirmen sass und in einem angeregten Gespräch mit Paris vertieft zu sein schien. Paris sagte in unterdrücktem Ton etwas zu dem Mitarbeiter und dieser erhob sich sofort von seinem Arbeitsplatz und verschwand aus dem Sichtfeld. Paris richtete sich langsam auf und liess dabei die Hände über seine weisse Uniform gleiten, als ob er sie glattstreichen wollte, drehte sich abrupt um und näherte sich gemessenen Schrittes dem Bildschirm, bis sein tiefschwarzes, langes Gesicht fast den gesamten Ausschnitt ausfüllte. Der Afro-Amerikaner war sicher gut zwanzig Jahre älter als Ferry, doch er wirkte nach wie vor energiegeladen und jünger, als er wirklich war. Er hatte scharf definierte Gesichtszüge, die sehr ebenmässig waren und in seinem kurzgeschnittenen Kraushaar gab es kaum weisse Strähnen. Sein Gesicht zeigte wie immer keine Regung, doch Ferry erkannte einen müden Zug um seine Augen.

      "Commander.", grüsste er knapp.

      "Paris." Ferry deutete ein zurückgrüssendes Kopfnicken an.

      Einige Sekunden verstrichen, in denen sich die beiden taxierten. Schliesslich konnte Ferry nicht mehr an sich halten und brach das Schweigen.

      "Ist es Laura?" Er musste Gewissheit haben.

      "Ich fürchte, ja." Paris' Deutsch war akzentfrei und zeigte keinerlei amerikanische Färbung.

      Ferry schloss die Augen für einen Moment und atmete tief durch. Verdammt!

      "Was zum Teufel ist passiert?", presste er hervor, jedes Wort einzeln betonend. Die Bestätigung, dass es wirklich um Laura ging, war wie ein Schlag in den Solar Plexus gewesen. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Er spürte, wie seine Ohren wieder zu glühen begannen.

      Master Paris zögerte einen Augenblick, bevor er zu sprechen begann.

      "Die Grauen bauen Siedlungen in P1: kleine Städte, Burganlagen, befestigte Aussenposten…" Der offizielle Terminus für die fremde Lebensform, der man in der Parallelwelt 1 begegnete, war "PCs", oder "parallel creatures", doch alle Mitglieder des P1-Corps nannten sie einfach "die Grauen", aus dem einfachen Grund, weil sie genau das waren: grau. Sie sahen aus wie dunkle Schatten, humanoid, soweit man es beurteilen konnte. Sie schienen einen Kopf zu haben, zwei Arme, zwei Beine. Doch diese Einschätzung beruhte auf reiner Beobachtung aus der Ferne. Es war offiziell noch nie gelungen, einen Grauen lebendig zu fangen und ihn zu studieren. Sie waren im Normalfall äusserst aggressiv und attackierten Menschen sofort, wenn sie sie sahen.

      Bisher waren die Grauen meist nur in kleinen Geschwader-Gruppen aufgetreten, die wie Nomaden durchs Land zu ziehen schienen. Sie kamen aus dem Nichts und verschwanden wieder im Nichts. Aufklärung und Verfolgungsjagden hatten keinerlei Stützpunkte aufgezeigt. Dass die Grauen jetzt Siedlungen bauen sollten, war ein Schock für Ferry. Niemand hatte das je für möglich gehalten. Den Menschen war es bisher nicht gelungen, irgend etwas in P1 zu bauen. Darüber würde Ferry ausgiebig nachdenken müssen, um die volle Tragweite dieser Entwicklung einschätzen zu können. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür.

      "Das ist… erstaunlich. Und… erschreckend!", sagte er.

      "In der Tat.", war die lakonische Antwort von Master Paris. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort: "Wir haben alle verfügbaren Staffeln auf die Aufklärung angesetzt und tausende Stunden von Überwachung geleistet, um möglichst alle Standorte zu lokalisieren und herauszufinden, wie sie es machen. Doch es hat sich als sehr schwieriges Unterfangen herausgestellt… Die Nahverteidigung der Siedlungen ist enorm. Sie fliegen pausenlos Patrouille um die Standorte. Nur wenige, sehr mutige Piloten haben es geschafft, das dichte Verteidigungsnetz zu infiltrieren. Squad Leader Hidalgo war eine von ihnen..." Master Paris nannte grundsätzlich alle Piloten bei ihren Nachnamen oder ihrem Rang.

      Ferry hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und die Spitzen der Zeigefinger gegen seine Lippen gepresst. Er hörte mit höchster Konzentration zu, die Augen halb geschlossen, aber mit messerscharfem Blick auf Paris gerichtet. Er wollte Paris nicht unterbrechen und dieser sprach weiter. "Hidalgo hat geglaubt, eine Struktur in der Anordnung der Siedlungen entdeckt zu haben... Gemäss ihren Berechnungen scheint es eine Anordnung von konzentrischen Ringen zu sein: Zuäusserst liegen Horchposten, dann kommt ein Ring mit befestigten Truppenlagern, dann burgähnliche Bauten und im innersten uns bekannten Ring finden sich Siedlungen, die man Städte nennen könnte." Er hielt inne und atmete zweimal tief und schwer. "Sie glaubt, dass es im Zentrum der Ringe eine Art Hauptstadt oder Mutterschiff oder irgend etwas Vergleichbares geben muss…" Wieder hielt er inne und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. "Wir haben über einhundert Standorte lokalisiert und Squad Leader Orange hat das vermeintliche Zentrum daraus errechnet..."

      Ferrys eine Augenbraue ging nach oben, die andere nach unten und warf seine hohe Stirn in Falten.

      "Atlantis?", fragte er ungläubig.

      Ein Schatten huschte über Paris' dunkles Gesicht, eine winzige Regung in der sonst versteinerten Mimik des Vorgesetzten.

      "Sie wissen, wie Hidalgo ist…", setzte er mit einem atypischen Zögern an, "wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat…" Er brach ab, blickte kurz zur Seite und seufzte. "Sie ist überzeugt davon, dass die Grauen Atlantis gefunden oder vielleicht "erfunden" haben… Die errechneten Koordinaten liegen südöstlich der Azoren. Dort gibt es auf dem mittelatlantischen Rücken einige sehr hohe Erhebungen unter Wasser, wie Sie sicher schon herausgefunden haben."

      Ferry nahm den Gedanken auf und spann den Faden weiter: "… und wenn man sich das Wasser wegdenkt, oder "tieferlegt", dann wäre eine Insel dort… durchaus denkbar!"

      Paris nickte bedächtig und ergänzte: "Gut geschützt, mitten im Nebel… Wo wir nie suchen würden… Wir haben die ganze Orange Squad zur Aufklärung auf die Azoren geschickt. Doch das hat Hidalgo nicht gereicht... Sie wollte unbedingt in den Nebel zur Aufklärung! Ich habe es ihr ausdrücklich verboten! Sie ist alleine und ohne Flugerlaubnis losgezogen, um ihr verdammtes Atlantis zu finden!" Er schnaubte. Ferry spürte, wie angespannt Paris war. Dieser musste sich offensichtlich sehr zusammenreissen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

      Ja, Ferry wusste, wie Laura war. Er wusste, dass sie einen auf die Palme bringen konnte mit ihrer Sturheit. Irgendwie fand er es tröstlich, dass es nicht nur ihm so erging. Sogar die stoische und immerwährende Ruhe und Bedachtsamkeit von Paris hatte sie deutlich angekratzt. Wäre es nicht so tragisch gewesen, hätte er lachen müssen.

      "Wann und wo?", fragte er statt dessen. "Wissen wir, welche Toilette sie benützt hat?" Er hegte die leise Hoffnung, dass er einfach die Wahlwiederholung drücken konnte wie bei einem Telefon, wenn er die richtige Toilette fand, und so an den gleichen Zielort kommen könnte, an dem Laura gelandet war. Er wusste nicht, ob das ging, da sich die Toilette jeweils auf das individuelle Profil des Piloten anpasste, aber einen Versuch wäre es wert.

      "Squad Leader Hidalgo ist vor achtundvierzig Stunden vom Radar verschwunden... Eingetaucht in den Nebel..." Wiederum hielt Paris inne und seufzte. "Das dumme Mädchen ist mit dem IFO losgeflogen…!", er verdrehte die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Seine Stimme hatte einen weichen Unterton bekommen. Er glich jetzt einem Vater, der sich um seine pubertierende Tochter Sorgen macht, die nach dem Ausgang nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war.

      "Mit dem IFO…?" Ferrys Mimik setzte aus. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er wütend sein sollte oder erschrocken. Er starrte einfach mit grossen Augen ins Leere und wollte nicht begreifen, was Paris ihm gerade eröffnet hatte. "Was hat sie sich nur dabei gedacht…?" Ferry war auch schon in den Nebel geflogen, jeder Pilot musste das während seiner Zeit an der Akademie durchmachen, doch sie waren jeweils über Meerengen, enge Buchten oder Fjorde geflogen. Wenn man sauber geradeausflog, kam man irgendwann wieder auf der anderen Seite des Nebels heraus. Raum und Zeit funktionierten im Nebel anders. Man konnte den Eindruck haben, stundenlang in dieser weissgrauen Watte herumzufliegen, und war - von aussen gemessen - nur Sekunden weg gewesen. Andere Piloten machten die Erfahrung, dass sie nur gefühlte Sekunden im Nebel waren und in der Aussenwelt einige Tage


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