Die Millionengeschichte. Edgar Wallace
»Ja, wissen Sie denn...?«
»Natürlich, ich weiß«, erwiderte er bestimmt. »Wenigstens weiß ich alles, was ich wissen will, und mehr brauche ich nicht zu erfahren. Merken Sie sich das bitte – ich – will – weiter – nichts – wissen!«
Als sie an ihm vorbeiging, sah er, daß ihre leichten Schuhe schmutzig waren von dem weichen Lehm und daß ihr Kleid tropfte.
»Nehmen Sie auf dem hinteren Sitz Platz«, befahl er. »Ich freue mich, daß Sie schön sind«, fügte er dann hinzu.
Unwillkürlich mußte sie lachen. Sie machte auch ein freundlicheres Gesicht und gefiel John Sands nun schon bedeutend besser.
Er hielt nur noch so lange, bis er eine weitere Kanne Benzin in den Tank gefüllt hatte, dann ließ er den Wagen an.
Ohne weiteren Zwischenfall erreichte er die North Road, und nun brauchte er nicht länger ungewissen Träumen nachzuhängen, denn sie waren inzwischen Wirklichkeit geworden. Er fuhr langsamer, als er an einem Geschäft für Damenkleider vorüberkam, und sah sich unentschlossen nach seiner Begleiterin um. Dann murmelte er eine Entschuldigung und setzte die Fahrt fort.
Bei ihrer Ankunft in London war die Dunkelheit bereits hereingebrochen, und er brachte den Wagen vor der Tür seines kleinen Hauses in der Charles Street zum Stehen.
»Steigen Sie noch nicht aus«, sagte John Sands.
Er öffnete die Tür und ging um das Auto herum, dann machte er den Schlag für sie auf und half ihr beim Aussteigen. Vielleicht war diese Vorsichtsmaßnahme überflüssig, aber John Sands überließ gar nichts dem Zufall. Man konnte nie wissen...
Gleich darauf stand sie in der hell erleuchteten Diele. Er schloß die Tür und machte dann eine andere vor ihr auf. Dann trat sie in einen großen Raum, von dem aus eine schöngeschnitzte Treppe zum oberen Stockwerk führte. Schon in dem Dämmerlicht konnte sie sehen, daß der Raum mit einem gewissen Luxus ausgestattet war. Aber nachdem Sands die schweren Samtvorhänge heruntergelassen und das elektrische Licht eingeschaltet hatte, staunte sie doch über das geschmackvoll eingerichtete, gemütlich wirkende Wohnzimmer.
Er betrachtete sie kritisch und konnte nicht umhin, ihre schönen Züge und ihre fast königliche Haltung zu bewundern.
»Ich glaube kaum, daß es in London viele Damen gibt, die unter solchen Umständen so gut wie Sie aussehen und ihre Fassung bewahren können«, meinte er. »Was machen wir nun aber mit Ihren Kleidern? Auf der Herfahrt hatte ich schon die Absicht, vor einem Geschäft in einer der Vorstädte zu halten, aber ich bin dann doch weitergefahren. Es hat schließlich keinen Zweck, sich unnötig einer Gefahr auszusetzen. Aber wir werden die Schwierigkeit schon überwinden und die Kleiderfrage lösen.«
Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und sie stiegen beide die mit weichen Teppichen belegte Treppe hinauf. Die Frau mußte stundenlang dem Regen ausgesetzt gewesen sein, denn das Wasser tropfte von ihren Kleidern.
»Ich werde Ihnen einen Schlafanzug und einen Bademantel von mir geben. Damit müssen Sie sich vorläufig schon begnügen. Morgen besorge ich dann alles, was Sie brauchen.«
Ein neugieriger Blick traf ihn.
»Warum tun Sie das alles?« fragte sie. Es waren die ersten Worte, die sie seit langer Zeit äußerte.
Plötzlich überkam ihn Furcht. Vielleicht hatte er sich doch geirrt, und sie war gar nicht die Frau, die er suchte? Er hatte doch nur angenommen, daß sie es sein mußte, ein Irrtum war nicht ausgeschlossen.
»Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand.«
Langsam streifte sie die schmutzigen Handschuhe ab, und er betrachtete ihre Hände genau. Sie waren rau und rot wie die einer Arbeiterin. Dann wanderte sein Blick von ihren harten, schwieligen Fingern zu ihrem schönen, feingeschnittenen Gesicht.
»Eben habe ich beinahe einen Schrecken bekommen«, sagte er, »aber es ist alles in Ordnung. Was fragten Sie doch?«
»Ich wollte wissen, was all diese Güte und Freundlichkeit zu bedeuten hat.«
Er zuckte die Schultern.
»Mein liebes Kind, ich habe Ihnen einen sehr großen Dienst erwiesen, ich habe Ihnen gleichsam ein großes Geschenk gemacht, und Sie kennen ja das Sprichwort: ›Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul!‹ Ich weiß nicht viel von Ihnen, aber ich vermute, daß Sie vom Schicksal hart mitgenommen und in diesem Augenblick wahrscheinlich gern bereit sind, alles Mögliche zu tun, um ein ruhiges, sorgenfreies Leben zu führen. Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch. Ich verlange nichts von Ihnen, was Ihre Selbstachtung als Frau beleidigen könnte.« Die letzten Worte hatte er hastig hinzugefügt.
Sie lachte sonderbar.
»Es gibt wenig, was ich nicht tun würde, um wieder ruhig und friedlich leben zu können«, erwiderte sie leise. »Wo kann ich Sie treffen, wenn ich mich umgezogen habe?«
»Ich bin unten im Wohnzimmer. Ich wohne allein hier im Haus. Inzwischen werde ich mit der Garage telefonieren, daß mein Wagen abgeholt wird. Nachher können wir miteinander reden.«
»Kennen Sie meinen Namen?«
»Nein, den weiß ich nicht. Und ich will ihn auch nicht wissen. Sagen Sie mir nur den Vornamen.«
»Margaret.«
»Für mich sind Sie also Margaret Smith«, sagte er bestimmt. »Und Margaret Smith ist doch ein Name, den man leicht behalten kann.«
2
Während er die Treppe hinunterging, kam ihm zum Bewusstsein, daß er sich dieses Abenteuer eigentlich ganz anders vorgestellt hatte.
Er hatte nicht ganz die Rolle gespielt, die er hatte spielen wollen: freundlich, mild, überlegen und vor allem Herr der Situation. Bis zu einem gewissen Grad war ihm das allerdings gelungen, aber die Begegnung hatte sich doch reichlich prosaisch abgewickelt und hatte nichts von dem geheimnisvollen, märchenhaften Charakter, von dem er geträumt hatte. Für Margaret mußte er natürlich ein großes Rätsel sein.
John übergab dem Mann von der Garage das Auto. Wieder im Zimmer, zog er einen Vorhang vor, der den großen Raum teilte. Am hinteren Ende war ein Tisch gedeckt; er brauchte nur noch die elektrische Kaffeemaschine einzuschalten.
Nach kurzer Zeit kam Margaret die Treppe herunter. Er hatte erwartet, daß ihr der Schlafanzug und der Bademantel zu groß wären und sie nicht kleiden würden, aber sie sah sogar elegant darin aus. Den großen Schalkragen des Bademantels hatte sie mit einer Sicherheitsnadel im Nacken zusammengesteckt, so daß er ihren schönen Kopf umrahmte. Und irgendwo hatte sie ein seidenes Tuch gefunden, das sie als Gürtel benutzte. Das weite Kleidungsstück wirkte daher gar nicht unförmig, sondern hob im Gegenteil ihre schöne Gestalt noch besonders hervor.
Sie setzte sich vor den elektrischen Heizofen und hielt die Hände dagegen.
»Die sehen nicht gerade sehr schön aus«, sagte sie und lachte ihn freundlich an. »Aber Sie werden wohl begreifen, daß ich bei dem Leben nicht meine Hände pflegen konnte. Kann ich Ihnen helfen, Kaffee zu kochen? Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr getan.«
»Nein, danke, das verstehe ich auch ganz gut«, erwiderte John und lächelte ihr zu. »Wärmen Sie sich nur. Übrigens ist der Raum oben, der dem Badezimmer gegenüberliegt, für Sie bestimmt. Ich habe absichtlich die Tür aufgelassen, und ich freue mich, daß Sie es sich bequem gemacht haben.« Er warf einen Blick auf das bunte Seidentuch, das sie so malerisch umgeschlungen hatte.
Plötzlich hob sie den Kopf und lauschte. Der Sturm hatte bedeutend an Heftigkeit zugenommen und trieb die Regenschauer gegen die Fensterscheiben. Sie zitterte ein wenig und zog ihren Stuhl näher an den Heizofen.
»Ein entsetzliches Wetter! Es wäre furchtbar gewesen, wenn ich die Nacht auf dem Hügel im Freien hätte zubringen müssen.«
Sie summte ein kleines Lied und beobachtete ihn dabei.
Er war so merkwürdig weiblich in all seinen Bewegungen