Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze

Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze


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Emotionen und seinen Stoffwechsel von außen steuernd herunterfahren würde. So war es auch jetzt, während er gleichzeitig erstaunt beobachtete, welch verdammtes Arschaufreißen für eine Frau eine Geburt tatsächlich bedeutete.

      Ja doch! - Es waren schon mehrere Milliarden auf diesem Erdball geboren worden, dachte er. Und außer dem in Mode kommenden Kaiserschnitt gab es derzeit keine andere schmerzfreie Methode, einen Ableger auf diese Welt zu bringen. Dennoch, und obwohl sich Wauer das vor Augen hielt, war die Geburtsstunde seiner Tochter Maren eines der einschneidendsten Erlebnisse seines Lebens, und jedes Mal, wenn er in seinem weiteren Dasein seiner Tochter begegnete, stand dieser Moment, als er sie als winziges, schleimiges und blutiges Bündel zum ersten Mal in seinen Händen hielt, vor seinem geistigen Auge.

      Anfangs hatte er nur Sibylles Hand gehalten, während sie versuchte, die vortrainierten Atemübungen zu absolvieren. Dann, als das erfahrene Auge der Hebamme gesehen hatte, dass es wirklich ernst wurde, widmete sie sich voll und ganz der Gebärenden. Sie hatte eben noch kurz telefoniert und durchgegeben, dass der diensthabende Arzt „oben“ bleiben könne, da hier alles normal verlaufe. Das fand Wauer nun überhaupt nicht! Aber die Hebamme „couchte“ Sibylle beim Endspurt des Geburtsvorganges wie ein erfahrener Trainer, indem sie sie mehrmals regelrecht anschrie und forderte: „Atmen - pressen - atmen - pressen - atmen - pressen!“

      Dann befahl sie Wauer: „Los Martin, helfen Sie mal!“ Dabei nahm sie sein Handgelenk als ein Gegenlager, legte ihren Unterarm wie eine Rolle auf den hohen Leib der Gebärenden und drückte ihn mit voller Kraft von oben nach unten durch. Auch Wauer befand sich während dieser Gewaltprozedur im „Urmodus“. Und dann lächelte die Hebamme:. „Sehen Sie, da ist sie schon!“ Mit beiden Händen hatte sie das schwarz beflaumte Köpfchen ergriffen und das gesamte Baby mit einer geschickten Drehung in die Welt befördert.

      „Na, nun kommen Sie, Martin. Herzliche Gratulation! Ein ganz wunderbares Töchterchen. Warten sie noch einen kleinen Moment, bevor sie die Nabelschnur durchtrennen. Inzwischen können Sie schon mal ihrer Frau gratulieren. Sie ist eine Heldin!“

      Das empfand Wauer ehrlichen Herzens ebenfalls. Natürlich sagte die Hebamme so etwas jedem Paar nach einer erfolgreichen Entbindung. Dennoch war es wahr und richtig! Nach einigen Minuten gab sie ihm die Schere und Wauer vollzog diesen notwendigen, aber deshalb nicht minder symbolträchtigen Schnitt. Dann nahm der das mit einem sterilen Tuch umwickelte Menschlein und zeigte es seiner Liebsten, die bereits wieder voll aufnahmefähig schien. Sie legte es ein paar Sekunden an ihre Brust und begrüßte mit einigen für Wauer unverständlichen Worten ihre Tochter.

      „Sie können jetzt ihr Baby säubern und waschen. Was jetzt noch kommt, müssen Sie nicht unbedingt sehen“, befahl die Hebamme und Wauer tat, wie ihm geheißen und wie er es im Lehrgang hatte üben müssen. „Keine Angst, das Baby ist stabil, das hält was aus.“ In diesem Moment gab das Kind die ersten Laute von sich und fing alsbald zu schreien an.

      Es war geschafft! Die Uhr zeigte kurz vor drei.

      5.

      Hatte er jemals in seinem darauf folgenden Leben noch ein solch schönes Weihnachten erlebt, wie Ende des Jahres 1995? Wauer konnte sich nicht erinnern und glaubte es auch nicht.

      Damals war ja auch alles Gute zusammengetroffen: Die Geburt seiner Tochter Maren kurz zuvor, der Einzug der neuen Familie in die fertig renovierte, geräumige und wunderschöne Villa in der Bahnhofstraße, die beiden Großen, Christian, Sibylles Ableger, sein Sohn Lothar mit Freundin Katerina, die zu den Feiertagen bis zum 30. Dezember dagewesen waren, die ruhigen, schönen, winterlichen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr und ihre Ausflüge in die verschneiten Oberlausitzer Berge.

      Ja, vor allem das Baby! Zugegeben, die Nächte waren damals zuweilen recht unruhig gewesen. Das war aber längst in den Hintergrund getreten. Geblieben waren die tiefen Eindrücke, wie das kaum vier Wochen alte Kind bereits auf sie, die Eltern, die Jungs und die weihnachtliche Welt mit ihrer Musik, den Kerzen und Gerüchen reagierte. Er, der stolze, fünfzigjährige Vater, schob oder fuhr das Kind, verpackt im Schlitten oder im Kinderwagen, in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr durch den Ort und die Umgegend, Gelegenheit für die stillende Sibylle, wenigsten für ein, zwei Stunden ein wenig ausspannen und an sich denken zu können.

      Die Jungs großen wollten den Schwesterchen-Ausfahrdienst in jenen Tagen allerdings nicht übernehmen. Das käme ihnen zu blöde vor, waren sie sich einig. Stattdessen übernahmen sie zusammen mit Katerina längere Ausflüge auf Lausche und Weberberg, die in jenem Jahr im tiefverschneiten Winter lagen. Lothar, der Outdoorerfahrene, gab den Ton an und bemühte sich redlich, zu einem guten Klima zwischen allen Familienmitgliedern beizutragen und sowohl Sibylle wie auch Christian näher kennenzulernen. Er hatte damals Wauers ehemalige Berliner Wohnung übernommen und war mit der zwanzigjährigen Katerina dort eingezogen.

      Die Freundin studierte an der Humboldt-Universität im zweiten Jahr Anglistik mit gelegentlichen Ausflügen in Archäologievorlesungen und Lothar überlegte gerade, ob er ein Meisterstudium beginnen sollte. Er hatte in Frankfurt an der Oder den Tischlerberuf erlernt und arbeitete derzeit bei einer größeren Ausbaufirma auf diversen Berliner Baustellen.

      Wauer kannte Katerina kaum, hatte sie eigentlich erst einmal in Berlin getroffen, als er ein Wochenende am Friedrichshain bei den Schillers verbracht hatte und er sie und Lothar bei dieser Gelegenheit einmal zu einem Abendessen ins neueröffnete Il Pane e le Rose eingeladen hatte. Die blonde, rehäugige Schönheit hatte in ihren Pumps fast an Lothars Länge herangereicht, war Wauer aber eher etwas zu vollbusig und zu selbstbewusst erschienen. In jenen Tagen war er vorrangig bemüht gewesen, eine erste Beziehung zu Christian, Sibylles Sohn, aufzubauen.

      Christian war am 1. September gerade 18 Jahre alt geworden. Er war etwas größer als Lothar, schlank gewachsen wie seine Mutter und Hobbyfußballer. Über Fußball wusste er fast alles. Außerdem war er Herthafan. Mithilfe des Themas Fußball konnte Wauer Anknüpfungspunkte herstellen. Während seiner Berliner Zeit war er natürlich immer Eisern-Union-Fan gewesen und immerhin war Christian daran interessiert zu erfahren, wie es mit dem 1. Fußballclub Union Berlin im Stadion an der Alten Försterei in Berlin-Köpenik in den Jahren vor der Wende gegangen war.

      Christian war zwar offiziell mit in Großschönau gemeldet, wohnte aber weiterhin überwiegend bei seiner Tante und seiner Nichte Claudia in der Strausberger Straße, da im Frühsommer sein Abitur bevorstand und er dazu natürlich an seinem Immanuel-Kant-Gymnasium in Berlin-Lichtenberg bleiben wollte. Die „Großen“ hatten damals alle damit begonnen, ihren eigenen Weg in die westliche, so genannte freie, soziale Marktwirtschaft aufzunehmen. In jenen Jahren, so dachte Wauer jetzt zornig, war es noch die soziale Marktwirtschaft des katholischen linksrheinischen deutschen Nachkriegskapitalismus Ludwig Erhards gewesen.

      Das war jetzt längst Geschichte!

      Zu diesem ersten Jahreswechsel in ihrem neuen Heim hatte Wauer die große wie die kleine, lokale Politik trotz der sich anbahnenden Schneideraffäre wirklich beinahe einmal vergessen. Er hatte sogar die Zeit gefunden, ein wenig in den beiden Büchern zu lesen, die er zu Weihnachten bekommen hatte. Lothar hatte ihm von Otto Heinrich Muck „Alles über Atlantis“ geschenkt. Derzeit interessierte er sich, offenbar von Katerina inspiriert, für alte Geschichte, ganz uralte, vor allem die der frühen Imperien der Ägypter, Griechen und Römer, ganz besonders aber für die gänzlich rätselhaften und unerforschten Zeiten vor der so genannten Sintflut.

      Der in Wien geborene Professor Muck, der als Geophysiker und Ingenieur bei Wernherr von Braun in Peenemünde gearbeitet hatte, galt als einer der einflussreichsten Atlantis-Forscher des 20. Jahrhunderts und Lothar und Katerina waren seinen Theorien offenbar ziemlich verfallen. Muck behauptete, wie einige andere Altertumsforscher auch, dass es bereits Jahrtausende vor den Ägyptern eine atlantische Hochkultur gegeben habe, von deren Überresten Ägypten und Hellas abstammten und dass der Platon-Bericht deshalb wörtlich genommen werden müsse. Dafür sammelte er alle verfügbaren geophysikalischen und sonstigen Indizien und trug diese in mehreren Bücher in die Öffentlichkeit. Jedenfalls hatte Lothar gewollt, dass der Vater die seiner Meinung nach bahnbrechenden Erkenntnisse des Österreichers über die „Welt vor der Sintflut“ doch wenigstens einmal zur Kenntnis


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