Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
1993 nahm hingegen das Rhein-Main-Mosel-Hochwasser die volle Aufmerksamkeit und die Solidarität aller Deutschen in Beschlag.
Das darauf folgende Jahr verlief genauso hektisch, wie schon die vorhergehenden. Der Jugoslawienkrieg wurde mit dem Eingriff der NATO und ihren verheerenden Bombardements immer blutiger. Erste Skandale bei der Arbeit der Treuhandanstalten sickerten durch und der Wahlkampf zum 13. Deutschen Bundestag tobte in allen sechzehn Bundesländern. Die Kreistagsfraktion unterstützte den regionalen Kandidaten der SPD, Friedrich Lehmann, mit allen zur Verfügungen stehenden Kräften. Wauer erlebte hautnah, welche Sorge, ja geradezu Angst, den Zittauer befallen hatte, dass er es über die Sächsische Liste nicht schaffen würde, erneut in den Bundestag einzuziehen. Da die Sachsen, im Gegensatz zu den Zeiten vor dem Krieg, neuerdings ganz überwiegend „christlich“ wählten und anderseits die PDS-Kommunisten in den regionalen Umfragen noch ein ganzes Stück vor den Sozies rangierten, war diese Befürchtung wohlbegründet. Doch Lehmann schaffte es sogar recht komfortabel und die Erleichterung aller „Genossen“ des Wahlkreises, der Kreistagsfraktion und ganz besonders Wauers darüber war riesengroß gewesen, „ihren“ Mann in den Bundestag gehievt zu haben.
Die christlich-liberale Koalition hatte bei dieser Wahl ihre Mehrheit gerade noch behauptet. Die Union aus CDU und CSU erreichte mit 41,5 Prozent der Stimmen allerdings ihr bisher schlechtestes Ergebnis seit 1949. Die SPD verzeichnete damals 36,4 Prozent. Die PDS zog mit 4,4 Prozent in den Bundestag ein, weil sie im Ostteil Berlins vier Direktmandate errang. Auch die Bündnisgrünen waren wieder im obersten deutschen Parlament vertreten. Und Helmut Kohl, der im Frühjahr 1994 in den Umfragen noch weit abgeschlagen hinter dem SPD-Kandidaten Rudolf Scharping gelegen hatte, wurde zum fünften Mal hintereinander zum Kanzler aller Deutschen gewählt. Klaus Kinkel von der FDP wurde Vizekanzler. Rudolf Scharping und die SPD hatten verloren, wenn diesmal auch nur knapp.
Ein anderes, in den Medien jener Zeit keineswegs besonders hoch gehandeltes, Ereignis fand Wauer noch bedeutungsvoller als jenen denkwürdigen Wahlausgang: Anfang Dezember hatte ein Gipfeltreffen der Teilnehmer der ständigen „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit“ in Europa stattgefunden, auf der über den weiteren Ausbau der Sicherheitsarchitektur und die Entwicklung der Kooperationsbeziehungen der europäischen Staaten beraten wurde. Am Rande jenes KSZE-Gipfeltreffens in Budapest tauschten US-Präsident Bill Clinton, Russlands Präsident Boris Jelzin sowie die Präsidenten der Ukraine, Weißrusslands und Kasachstans die Ratifizierungsurkunden zum START-1-Abkommen (Strategic Arms Reduction Talks -Verhandlungen über die Reduzierung der strategischen Waffen) aus. Damit trat der Vertrag über eine Reduzierung der Atomwaffen mit einer Reichweite von mehr als 5.500 km in Kraft, welcher allerdings bereits 1991 unterzeichnet worden war.
Wauer freute sich, dass diese Verhandlungen endlich zu einem positiven Abschluss gekommen waren. Auch wenn sich damit immer noch genügend Atomwaffen in der Welt befanden, die für eine Vernichtung allen menschlichen Lebens auf der Erde mehrfach ausreichten, schien es Wauer, dass sich überall auf dem blauen Planeten ein echter Wille zur weiteren Abrüstung und Verringerung der nuklearen Gefahren durchsetzte. Zum ersten Mal konnte man hoffen, dass das Damoklesschwert der Selbstvernichtung des homo sapiens sicher verankert bleiben würde. Nur mit Grausen erinnerte er sich an die Alpträume, die ihn deswegen all die vergangenen Jahrzehnte verfolgt hatten.
Doch bereits diese Konferenz der Großmächte wurde von erheblichen Meinungsverschiedenheiten der Teilnehmer aus Ost und West überschattet. Russland lehnte eine Osterweiterung der NATO strikt ab und wollte sich vorerst nicht an der NATO-Initiative "Partnerschaft für den Frieden" beteiligen. Zum Schluss der Tagung wurde die KSZE in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)“ umbenannt.
In Wauers Rückblick war die erste Hälfte der neunziger Jahre trotz allem eine hoffnungsvolle Zeit gewesen, wenn er es am heutigen Zustand Deutschlands, Europas, der Welt und an seinem eigenen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Niedergang maß.
3.
Anfang des Jahres 1995 wurde die Region um die japanischen Millionenstädte Kobe und Osaka von einem gewaltigen Erdbeben der Stärke 7,2 auf der Richterskala erschüttert. Mehr als 5.000 Menschen kamen dabei ums Leben und fast 27.000 wurden verletzt. Die Zerstörungen hatten nahezu apokalyptische Ausmaße und alle Welt zeigte sich darüber erschüttert, obwohl manche Kommentatoren darauf hinwiesen, dass solche Katastrophen die offensichtlich fragilen japanischen Inseln seit Jahrhunderten mit unschöner Regelmäßigkeit heimsuchten.
In Europa war es seit über tausend Jahren zu solch fürchterlichen Ausbrüchen der nur wenige Kilometer unter der Erdkruste liegenden Magmaschicht nicht mehr gekommen. Dennoch sorgten die gelegentlichen Ausbrüche des Ätna oder eines der zahlreichen Isländischen Vulkane auch hier oft genug für Angst und Schrecken unter den Europäern. In den 90er Jahren des zu Ende gehenden Jahrtausends widmeten sich die Regierenden daher eher dem Aufbau einer Europäischen Union, ob die Massen das wollten oder nicht. Mit Jahresbeginn waren auch Österreich, Finnland und Schweden der EU beigetreten, so dass der Bund jetzt aus fünfzehn Mitglieder bestand. Norwegen hatte höflich abgelehnt!
Am 3. Februar war auf einem Truppenübungsplatz bei Potsdam die feierliche Eingliederung verschiedener Truppenteile der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr erfolgt. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses der letzten Volkskammer und des gesamtdeutschen Übergangsparlamentes hatte Wauer im Evaluierungsausschuss zur personellen Eignungsprüfung dieser DDR-Soldaten für ihren Dienst in der Bundeswehr mitgearbeitet und selber etwa zweihundertfünfzig NVA-Angehörige verschiedener Ränge und Waffengattungen interviewt. Er erinnerte sich an manche kuriose Begegnung und einige denkwürdige Gespräche.
Natürlich hatte er zu diesem Ereignis eine Einladung erhalten. Darum war er nach Potsdam gereist, um bei dieser Gelegenheit neben der aktuellen „Politelite“ noch einmal einige Ausschussmitglieder und frühere NVA-Soldaten zu treffen. Es folgten in jenem Jahr zahlreiche Gedenkfeiern aus Anlass des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges. Wauer hatte am 13. Februar auch an der Gedenkfeier der Totalzerstörung seiner Landeshauptstadt Dresden teilgenommen, an der auch Regierungsvertreter und Veteranen der Siegermächte teilnahmen. Der Streit um die Toten war erneut hochgeflammt. Manche nannten immer noch die Zahl von 225.000. Angaben über die Verwundeten gab es dagegen überhaupt keine und eine Differenzierung nach Alter, Geschlecht, Einheimischen und Flüchtlingen war nach den Feuerstürmen der Nächte vom 13. auf den 14. und noch einmal vom 14. auf den 15. Februar 1945 nicht möglich gewesen. Niemand konnte oder wollte die Menge der bei diesen Angriffen getöteten Kinder beziffern.
Später, im Jahre 2004, wurde schließlich eine „Historikerkonferenz“ beauftragt, die den Streit um die Opfer des „Dresdener Holocaust“ mit wissenschaftlichen Methoden beenden sollte. Man einigte sich auf 25.000 Tote, doch Wauer glaubte nicht daran. Die Bilder und Filmdokumente, die man unter anderem im Dresdener Verkehrsmuseum betrachten und sogar erwerben konnte, sprachen seiner Meinung nach eine andere Sprache. Wahrscheinlich lag die Wahrheit ungefähr in der Mitte, wie so oft in dieser Welt, wenn Machteliten an einer Verschleierung ihrer Verbrechen interessiert sind.
Deshalb war Wauer auch ein Gegner des Wiederaufbaus der Frauenkirche gewesen. Aus kirchgemeindlicher Sicht war eine weitere Kirche im Zentrum der Stadt überhaupt nicht erforderlich, weil direkt gegenüber am Altmarkt bereits die evangelische Kreuzgemeinde der ehrwürdigen Kreuzkirche mit dem weltberühmten Kruzianerchor residierte. Und die Dresdener Katholiken hatten ihre wunderbare Hofkirche, in der einst der konvertierte Polenkönig August der Starke das Hochamt genommen hatte.
Was Wauer als wesentliches Argument gegen einen Neubau erschien, war die Tatsache, dass damit das letzte, im wahrsten Sinne des Wortes „hervorragende“, Mahnmal des Kriegswahnsinns aus seiner Landeshauptstadt verschwand. Doch bereits 1991 war die „Stiftung für den Wiederaufbau Frauenkirche“ gegründet worden, die den gesamten Prozess leitete. Im selben Jahr hatte die sächsische evangelische Landessynode den Neuerrichtung der Frauenkirche rechtskräftig beschlossen. Willige Künstler, wie der Startrompeter Ludwig Güttler, spannten sich vor den Karren der Spendenkampagne, denn man behauptete, dass dieses Vorhaben allein mit Spendenmitteln finanziert werden würde. Dass auch staatlich anerkannte Spenden Steuermittel waren,