Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze
er eine gehörige Portion Angst vor seinem Schritt in diese ungewisse berufliche Zukunft. War es nicht reichlich blauäugig und verrückt, ohne jegliche Erfahrung der Selbständigkeit, ohne ausreichende Rechtskenntnisse und mit ziemlich begrenztem Wissen auf dem nicht allein im Tief- und Hochbauwesen hochentwickelten technischen Sektor, worüber er immerhin noch am besten Bescheid wusste, sondern mit all der Unkenntnis des unendlichen Drumherum, besonders auch des westdeutschen Rechnungs- und Steuerwesen, am bevorstehenden Konkurrenzkampf teilnehmen zu wollen? Schon entstanden überall zahlreiche Niederlassungen westdeutscher Firmen, darunter auch Architektur- und Bauplanungsbüros.
Auch die „Hochschule Zittau-Görlitz“ entwickelte mit der neu gebildeten Landesregierung des nunmehrigen „Freistaates Sachsen“ einen komplexen Entwicklungsplan und wurde gründlich umgekrempelt. Damit hatte sie einen gewaltigen Transformationsprozess zu absolvieren, welcher noch einige Zeit andauern würde. Doch bereits jetzt zog sie junge und leistungsfähige Studenten und Akademiker an, die Wauer durchaus als kommende Konkurrenz für sein „Start-up-Unternehmen“ ansehen konnte.
Wauer hatte es dennoch gewagt, in der Zittauer Neustadt ausgangs der Schulstraße ein sehr preiswertes, schmales, vierstöckiges Reihenhaus aus der Gründerzeit zu erwerben, um darin sein Planungsbüro unterzubringen. Es war neben der Villa in Großschönau sein zweites eigenes Sanierungsobjekt, ein schönes Gebäude im Neorenaissancestil, welches unter Denkmalschutz stand. In den über drei Etagen verteilten Räumlichkeiten konnte der nunmehrige „Arbeitgeber“ für seine Mitarbeiter anständige Arbeitsbedingungen herstellen. Für die Restaurierung und Modernisierung dieses Gebäudes gab es umfangreiche Fördermittel des Staates, so dass Wauer, der die Planungen und die Baukontrolle natürlich selbst übernahm, beinahe noch ein Plus bei dem ganzen Vorhaben machte.
Unverzüglich hatte Wauer auch mit dem juristischen Literaturstudium begonnen. Das Handelsgesetzbuch las sich wie eine Schrift aus dem 19. Jahrhundert. Und die war es im Grunde ja auch. Denn schon im Vorwort wurde man darüber informiert, dass das HGB am 1. Januar 1900, genau wie das Bürgerliche Gesetzbuch, das geltende Zivilgesetzbuch der BRD, in Kraft getreten war und bis heute galt. Natürlich waren beide Gesetzeswerke im Laufe der Jahrzehnte, vor und nach den beiden Weltkriegen, teilweise erheblich ergänzt und verändert worden, jedoch in ihren Grundzügen noch auf dem so genannten „Sonderprivatrecht ordentlicher Kaufleute Deutschlands“ gegründet. Vorgänger für das HGB, so las er, war das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 gewesen, das noch von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossen worden war. Vom 1871 nach der Reichsgründung gebildeten Reichsoberhandelsgericht in Leipzig war es weiterentwickelt worden und galt seinerzeit für alle Gebiete des Deutschen Reiches. Als eines seiner Vorbilder galt unter anderem Napoleons code de commerce von 1807. Wenn das keine Kontinuität ist, dachte Wauer staunend.
Beim Studium allein dieser interessanten Vorgeschichte des nun auch in den mitteldeutschen Bundesländern geltenden deutschen Rechts wurde ihm Angst und Bange. Außer mit dem HGB und den 2385 Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches musste er sich auch noch mit dem Strafgesetzbuch und dem GmbH-Gesetz einigermaßen vertraut machen. Das Strafrecht ging übrigens sogar direkt zurück auf das Jahr 1871, dem Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, las Wauer in dessen Einführungsteil.
Alle drei nun im „Beitrittsgebiet“ geltenden großen bundesdeutschen Gesetzeswerke waren also erheblich älter, als das ebenfalls gegen die vergeblichen Widerstände einiger ostdeutscher Wendeaktivisten verbindliche bundesdeutsche Grundgesetz. Und nun galt das alles auch in den fünf neuen Bundesländern, und die ehemaligen DDR-Bürger waren gezwungen, dies und eine Menge anderes dazuzulernen.
Wauer war in jener Zeit ständig äußerst angespannt. Seine „Sachsenprojekt“ sollte eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung werden. Das hatte ihm der freundliche Steueranwalt aus Dr. W.s Kanzlei geraten. Ob Wauer jemals nur „beschränkt“ haften würde, bezweifelte er. Im Augenblick tröstete es ihn auch wenig, dass es rund fünfzehn Millionen Landsleuten ähnlich erging wie ihm. Sicher, dass er es schon irgendwie packen würde, war er sich in jener Zeit jedenfalls überhaupt nicht gewesen.
Die fünfundvierzig Jahre seines ersten Lebens im stalinschen Spätfeudalismus des nun untergegangenen Sowjetimperiums, wie Wauer diese Ära bezeichnete, verschwanden rasend schnell im Orkus der Geschichte. Ein zweiter, aufregender, aber höchstwahrscheinlich sehr schwieriger, Lebensabschnitt stand nun nicht nur ihm bevor. Gut, dass die Zukunft eine Unbekannte ist, hatte er damals gedacht und sich wieder an einen ähnlichen Moment anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 erinnert, als in ihm eine erste Ahnung davon hochgestiegen war, welch revolutionärer Umbruch den Ostdeutschen tatsächlich bevorstand.
Jener Tag war in Wauers Leben von ganz besonderen Emotionen der Abschiede und Neuanfänge geprägt gewesen. Seinen Volkskammerkollegen war es wohl ebenso ergangen. Ein starkes Gefühl von Abschied hatte ihn nicht erst bei der Abendveranstaltung der scheidenden de Maizière-Regierung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt erfasst. Bereits am Vormittag, beim Festakt anlässlich der Auflösung des letzten DDR-Parlamentes im Palast der Republik, war ihm das zurückliegende Jahr seit der großen Kundgebung vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz wie ein rasanter Traum vorgekommen.
Am frühen Nachmittag dieses denkwürdigen, schönen Oktobertages waren bereits die Stadtkommandanten der West-Alliierten vom Westberliner Senat feierlich verabschiedet worden. Ihre besondere Funktion als Träger der obersten Gewalt in der Westhälfte der Stadt ging damit offiziell zu Ende. Man hatte ihnen angesehen, dass der Rückzug aus diesen, für hohe Militärs sowohl einträglichen als auch seit langem recht ruhigen, Schutzmächte-Positionen für sie auch nicht leicht war.
Im Schinkelschen Schauspielhaus, das erst einige Jahre später zum "Berliner Konzerthaus“ avancierte, hatte es für Parlamentarier, Regierungsmitglieder und internationale Gäste an jenem Vorabend des Tages der Wiedervereinigung außer der bewegenden Aufführung von Beethovens 9. Symphonie unter dem tapferen Leipziger Konzertmeister Kurt Masur eine Ansprache Lothar de Maizières gegeben. Der scheidende Ministerpräsident verband darin vierzig Jahre DDR-Geschichte mit einem Ausblick auf das geeinte Deutschland. Mauer, Stacheldraht und Staatssicherheit hätten den Sozialismus zum Knüppel verkommen lassen, zitierte er den großen Tschechen Vaclav Havel. In der Zukunft habe man es mit den hoffnungsvoll veränderten Bedingungen von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit zu tun, die höher einzuschätzen seien als die materiellen Vorteile, die für die DDR-Bevölkerung nach vielen Entbehrungen verständlicherweise nun so leicht in den Vordergrund rückten. Das in hohem Ansehen stehende Grundgesetz habe als Grundprinzip des Rechts eine verantwortete Freiheit, die es von jedem Einzelnen auszufüllen gelte.
„Die Freiheit ist der beste Förderer unserer individuellen Fähigkeiten; sie gehört zugleich zu den größten Prüfungen des menschlichen Charakters. Sie für sich und zugleich auch im Sinne des Gemeinwohls zu verwirklichen, ist eine faszinierende Aufgabe für uns alle. Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam sein wollen, vereint uns zum Staat. Von morgen an wird es ein geeintes Deutschland geben. Wir haben lange darauf gewartet, wir werden es gemeinsam prägen, und wir freuen uns darauf“, hatte de Maizière formuliert und alle, auch Wauer, hatten begeistert und lange applaudiert.
Dann, am späteren Abend, bei der folgenden Feier im Deutschen Reichstag, hatten ihn die Emotionen endgültig übermannt, als ihm zutiefst bewusst wurde, dass er tatsächlich an einem revolutionären Umbruch der Weltgeschichte teilnahm, hier, an der Kampf- und Nahtstelle zweier sich jahrzehntelang feindselig gegenüberstehenden, antagonistischen Imperien. Von einem Balkon des geschichtsträchtigen Gebäudes beobachtete er mit seinen Kollegen das prächtige Feuerwerk, das eine neue Ära der deutschen Geschichte einläutete. Er konnte nichts dagegen machen, er musste weinen vor Freude.
Wauer hatte lange Jahre inständig gehofft, dass es so kommen würde und hatte seine Hoffnungen auf ein freies, geeintes Deutschland in Erfüllung gehen sehen. Heute, fünfunddreißig Jahre später, beurteilte er vieles gänzlich anders.
Freiheiten
1.
Wauer versuchte die Freiheiten, die nun durch die ostdeutschen