Westdämmerung. Christian Friedrich Schultze

Westdämmerung - Christian Friedrich Schultze


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denn der Tagesausgang verhieß eine gute Fernsicht.

      „Sie war die Letzte von den Alten, die den Krieg noch mitgemacht haben“, hatte Robert nach einer Weile geäußert. Wauer bemerkte, dass der nur wenige Monate Jüngere eine deutlich bessere Kondition hatte als er. Das kam sicherlich daher, dass der Vetter mit Frau und Kindern an den Wochenenden von München aus oft in die nahen Alpen zum Wandern fuhr.

      „Ich weiß nicht mal mehr, wann deine Eltern gestorben sind.“

      „Na, müssen wir uns ja auch nicht merken. Renate weiß so etwas dagegen immer. Sie hat alle diesbezüglichen Daten im Kopf, Geburtstage, Sterbetage, Hochzeitstage, alles. Jedenfalls starb unsere Mutter lange vor dem Mauerfall.“

      Wauer wunderte sich, wie steinig ihm der Gipfelweg hinter der großen Abzweigung heute vorkam. So „alpin“ hatte er den Lauscheaufstieg gar nicht in Erinnerung. Das letzte Mal, als er den Berg besuchte, hatte ein knackiger und schneereicher Winter geherrscht. Diesmal war der Pfad trocken, steinig und hart. Die Pflanzen und Gräser, die ihn säumten, ebenso wie die Buchen, Fichten und Birken des Bergwaldes, strahlten immer noch im satten Grün. Nur ganz winzige Anzeichen des beginnenden Herbstes waren zu bemerken gewesen.

      „Es ging alles wahnsinnig schnell.“

      Wauer war sich nicht ganz sicher, was Robert meinte.

      „Ja, es scheint mir noch, als wäre es erst gestern gewesen, als ihr uns kurz nach dem Mauerfall in Berlin besucht habt“, entgegnete er, angestrengt atmend, da die Kraxelei ihn ziemlich forderte.

      „Das war so irre, das waren derart intensive Tage, das werde ich niemals vergessen.“

      „Geht mir genauso. Als wäre man damals ganz neu auf die Welt gekommen.“

      „Seid ihr ja auch, irgendwie jedenfalls. Außerdem scheinst du ja auch noch ein neues Glück gefunden zu haben.“

      „Welches Glück?“ Wauer schnaufte. Diesmal nicht nur wegen der Anstrengungen des Aufstiegs.

      „Nun ja. Es war doch alles richtig, wie du es gemacht hast. Ich meine, dass du dich damals in Budapest plötzlich entschieden hast, nicht mitzukommen und mich allein nach Österreich zurückgeschickt hast. Ich hab eine Weile gebraucht, es zu verdauen. Aber du hast in allem Recht behalten. Und nun auch diese wunderbare Frau.“

      „Ich glaube, so war es nicht“, erwiderte Wauer, nachdem er eine Weile dazu geschwiegen hatte. Die Anspielung auf Sibylle ignorierte er lieber, denn plötzlich standen ihm die gemeinsamen Erlebnisse mit Helga bei jenem geheim geglaubten Treffen in Warschau, kurz nach den ersten Aufständen der Solidarnosz, vor Augen. Da hatten sie das erste Mal über die Möglichkeit einer Republikflucht Wauers über Ungarn gesprochen.

      „Ich hab das ´81 voll aus dem Bauch heraus entschieden. Ich kann nicht sagen, was es wirklich war. Ich hab an Helga gedacht, an Lothar, an Barbara, an Mutter. Ich weiß es nicht. Es ahnte doch wirklich niemand, dass es nur noch acht Jahre dauern würde bis zum Mauerfall. Damals glaubten wir jedenfalls überhaupt nicht daran, dass ein friedlicher Weg gefunden werden könnte, die beiden so unterschiedlichen Teile Deutschlands wieder zusammenzuführen und die Wunden des Kalten Krieges irgendwie zu heilen. Vor allem waren wir überzeugt, dass es nur unter der Bedingung der völligen Neutralität Deutschlands geschehen könne. Und jetzt? Die Russen ziehen mit ihren Armeen aus Mitteldeutschland ab, der Warschauer Pakt wird aufgelöst, die Westalliierten aber bleiben und das gesamte Deutschland wird Mitglied der NATO. Ist das positiv? Jetzt redet man sogar davon, dass eventuell Russland NATO-Mitglied werden könnte. Was sind das denn für Träume?“

      Wauer musste eine Weile stehen bleiben, denn sein Redefluss hatte ihn zu viel Luft gekostet.

      „Aber es geht dir doch jetzt richtig gut, oder? Man hört ja neuerdings die schlimmsten Geschichten vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und von der Massenarbeitslosigkeit eurer Braunkohle- und Textilarbeiter. Doch den Bausektor betrifft es ja wohl nicht.“

      „Ja richtig, selbst hier in der Oberlausitz ist der Wiederaufbau bereits in vollem Gange. Es war doch alles schon halb verfallen und vollkommen marode hier. Vor allem die ganze Infrastruktur und ganz besonders die Straßen und Autobahnen. Dieser so genannte ‚Investitionsrückstau‘ ist wirklich gewaltig. Straßen-, Abwasser- und Eigenheimbau, das gesamte Bauwesen boomt jetzt unglaublich. Überall werden auch die heruntergekommenen öffentlichen Gebäude renoviert, restauriert und rekonstruiert, dass es eine Freude ist. Das alles ist ein Glücksfall für meine neue Firma und ich weiß mich vor Aufträgen gar nicht zu retten. Ich bin im Begriff, Einkommensmillionär zu werden. Und wenn wir gerade dabei sind: Wieviel schulde ich Dir überhaupt noch? Ich wäre, glaube ich, bald in der Lage, es Dir zurückzuzahlen.“

      „Du schuldest mir überhaupt nichts. Schließlich haben wir im Westen unverdientermaßen vierzig Jahre in Freiheit und Wohlstand leben können, während ihr euch mit eurer merkwürdigen sozialistischen Planwirtschaft und den Reparationen an die Sowjetunion herumschlagen musstet. Ich denke, das war dann nur ein kleiner Solidaritätsbeitrag, den ich leisten konnte.“

      „Na ja, ‚unverdienter Maßen‘ war es ja wohl in der Bundesrepublik für die arbeitenden Menschen auch nicht gerade. Die Schufterei nach dem Krieg war im Westen vor allem für die kleinen Leute horrende, wenn man den ganzen Wiederaufbau, angefangen bei der Trümmerbeseitigung bis zur Maloche in den Betrieben in Betracht zieht. Ich hab einige von Wallraffs Reportagen gelesen. Es ging ja auch nicht nur um ostdeutsche Städte, wie Dresden, Leipzig, Plauen, Chemnitz oder Berlin. Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Nürnberg, München und so weiter, haben die Alliierten genauso platt gemacht. Wir müssen also trotzdem nochmal darüber reden.“

      „Nein, müssen wir nicht! Darüber sollten wir nie mehr reden! Es gibt Wichtigeres in diesen Tagen. Zum Beispiel diese merkwürdige Treuhandpolitik, die soviel Unruhe unter der ostdeutschen Bevölkerung verursacht“, meinte Robert nach einer kleinen Pause. „Denkst du wirklich, dass ihr jetzt das große Los gewonnen habt mit dieser Wiedervereinigung?“

      „Ja, wegen der verdiene ich derzeit so gut, während tausende andere ihre Arbeit verlieren. Überall in den Kommunen errichten sie jetzt auf der grünen Wiese diese neuen Gewerbegebiete. Natürlich ist das ziemlicher Unsinn, denn es gibt eigentlich genug stillgelegte Fabrikviertel. Unser Gewerbe hier im Osten, Textilindustrie, Braunkohle, Waggonbau usw., bricht wegen der schnellen D-Mark-Einführung gerade völlig in sich zusammen. Aber weil es für Neuerschließungen so unglaublich viele ‚Fördermittel‘ gibt, reißen sich die Kommunen natürlich unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte darum, als förderwürdig zu gelten und die Zuschläge für die Gestaltung ihrer neuen ‚Gewerbegebiete‘ auf der grünen Wiese zu bekommen. Man staunt bloß, welche produktive Kraft dieses Gesamtdeutschland dabei entwickelt. Und was die Freiheiten betrifft, dagegen möchte ich weder die stalinschen noch die honeckerschen Zeiten wiederhaben.“

      „Und welche Rolle spielst du jetzt in eurem Kreistag?“

      „Na ja, ich kriege über die dortigen Bekanntschaften einen Teil der Planungsaufträge. Über diese Schiene kommen eben einige Leute auf mich zu, besonders Wohlhabende aus dem Westen, die aufgrund der Steuersparmodelle, die die Bonner Regierung aufgelegt hat, hier investieren wollen. Sie haben zum Beispiel in Görlitz ganze Straßenzüge aufgekauft und fangen an, sie von Grund auf zu sanieren, einschließlich aller Medien und der maroden Abwassersysteme. Auf diese Weise wird endlich unser Wohnungsproblem gelöst. Tiefbau war schon in ‚Schwarze Pumpe‘ mein Metier. Jetzt ist es eine einträgliche deutsch-deutsche Zusammenarbeit.“

      „Ist doch prima oder?“

      „Vielleicht ist das der wahre Grund, weswegen die Russen dem Abzug zugestimmt haben. Hier war fast alles Schrott und lag darnieder. Für sie war am Ende nichts mehr zu holen.“

      Mittlerweile waren sie auf dem Gipfelplateau angekommen. Hier hatte sich seit Wauers letztem Besuch nichts verändert. Bis jetzt war glücklicherweise noch niemand auf den Gedanken gekommen, auf den Grundmauern der abgebrannten und inzwischen längst zerfallenen ehemaligen Lauschegaststätte eine neue Bergbaude zu errichten.

      Wie Wauer es erwartet hatte, gab es eine wunderbar klare Rundsicht


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