Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen. Billy Remie

Das Tagebuch des Schattenwolfprinzen - Billy Remie


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ein kaltes Schlachtfeld. Tote Soldaten lagen im Matsch, ihre Gliedmaßen waren seltsam verdreht, als wären sie von einer hohen Klippe gefallen. Fünf Stück zählte ich, und auf ihren Schildern war das Wappen meiner Familie zu sehen. Der goldene Greif auf blaurotem Hintergrund. Mir wurde schlecht.

      »Mel ...!« Derricks Stimme war ein ausgestoßener Laut voller Grauen.

      »Ich sehe es«, gab ich zurück. Ich war fassungslos. Wie haben sie uns gefunden?

      Wir stiegen von unseren Pferden und wanderten durch das Chaos.

      Lazlo ging vor einem der Toten in die Hocke. »Königliche Soldaten«, spuckte er aus. Dann sah er mich an und wollte wissen: »Was wollten die hier?«

      Ich wandte mich ab, statt zu antworten, und sah mich weiter um.

      Sie hatten den Eingang der Wolfshöhle zerstört, unsere Sachen durchwühlt, unser Hab und Gut lag verteilt im Dreck, unser Vieh hatten sie abgeschlachtet und mitgenommen ... selbst die jungen Pferde, die Derrick und ich vor der Abreise eingefangen hatten. – Pferde waren teuer und wir konnten uns keine leisten, weshalb ich beschlossen hatte, Wildpferde zu zähmen. Es war schwer, Carapuhrs sture Wildpferde zuzureiten, aber, wie bereits erwähnte, mochte ich Herausforderungen. Doch von diesem Plan konnte ich mich nun verabschieden, von allem, was ich aufgebaut hatte, konnte ich mich nun verabschieden ... Ich hatte gedacht, hier wäre alles sicher, doch ich hatte mich getäuscht. Schwer getäuscht. Zwar hatte Menard sich um alles kümmern wollen, während wir fort waren, aber ...

      »Menard!«, stieß ich aus und starrte zur Zufluchtstür. Sie stand halb offen, zerrissene Schriftrollen lagen davor und wehten im Wind.

      Sofort rannte ich los.

      Ich rutschte auf einigen Schriften aus und stolperte in das Innere. Ich nahm die Treppe nach unten und raste ungehalten in Menards Raum. Es war dunkel und ich musste stehen bleiben, bis sich meine Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten.

      Hinter mir hörte ich Schritte, aber ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Derrick mir gefolgt war.

      Wir standen im Dunkeln und ich konnte nur unsere schweren Atemzüge vernehmen, es war ansonsten still. Beunruhigend still. Toten Still.

      Ich hätte Menard am liebsten umgebracht, als ich erfuhr, das König Amon einen weiteren Sohn gezeugt hatte, aber nun, da er vermutlich den königlichen Soldaten zum Opfer gefallen war, wusste ich, das ich Menard nie etwas angetan hätte. Menard war mir ein Lehrer und zehn Jahre lang ein Vater gewesen. Ich liebte diesen alten Schamanen, ebenso wie ich Derrick liebte, beide könnte ich nicht einfach nur aus Zorn töten. Es war traurig, dass ich es erst dadurch erkannte, dass andere ihnen etwas antun wollten.

      »Menard?« Ich traute mich nur zu flüstern, vielleicht antwortete er mir dann nicht, weil ich zu leise gewesen war, und nicht, weil er tot war.

      Es blieb still.

      Ängstlich drehte ich mich zu Derrick um, das Licht, das oben von der Treppe hereinfiel, beleuchtete seinen Rücken, ich sah nur seinen Umriss, sein Gesicht war gänzlich schwarz. Es hätte mich wahrlich etwas beruhigt, seine silbernen Augen zu erblicken.

      Ich wandte mich wieder ab und sprach erneut zur Dunkelheit: »Menard?«

      Dann hörten wir es. Aus der Ecke, wo Menard gewöhnlich hinter seinem unscheinbaren Schreibtisch saß und grübelnd über Schriften lehnte, kam ein Ächzten.

      Derrick und ich stürmten durch die Dunkelheit.

      Ich fand den Schamanen hinter seinem Schreibtisch, er lag am Boden, sein Rücken lehnte an einem der zahlreichen Bücherregale, die die Wände zierten.

      »Derrick, eine Kerze!«, forderte ich und ging in die Hocke.

      »Melecay!« Menards Stimme war schwach und trocken.

      Ich antwortete ihm beruhigend: »Ja, ich bin es.«

      Licht flammte auf und Derrick kniete sich neben mich.

      »Mein Junge«, brachte Menard hervor und hob eine Hand, um mir mit seinen spitzen Knöcheln über die Wange zu streichen. »Du bist zurück.«

      Ich nickte eifrig, doch ich konnte nicht verhindern, dass meine Augen zu dem Schwert wanderten, das in Menards Bauch steckte. Der Soldat, der es gewagt hatte, ihn zu verletzen, lag direkt hinter mir. Er war tot. Menard musste Zauber gewirkt haben, vermutlich Druckwellen. Was auch das Chaos und die seltsam verdrehen Leichen erklären würde.

      Ich sah Menard wieder in sein altes, scharfkantiges Gesicht, er war weiß, sehr viel weißer als sonst, und seine braune Kutte war mit seinem Blut durchtränkt.

      »Derrick, können wir ...«, ich brach ab.

      Aber mehr musste ich auch nicht sagen, Derrick verstand ... und schüttelte betroffen den Kopf.

      »Nein.« Entsetzen durchfuhr mich. Das durfte nicht wahr sein!

      »Ist schon gut, Melecay«, hauchte Menard schwach und er nahm meine Hand in seine.

      Ich spürte plötzlich etwas Hartes, Kaltes in meinen Fingern. Ein Dolch!

      Fassungslos starrte ich Menard an, doch er lächelte nur zurück. Er war bereit zu gehen.

      »Wieso?«, fragte ich ihn wütend und voller Leid. »Wieso hast du nichts von dem Erben erzählt?«

      Erneut lächelte er liebevoll. »Das macht keinen Unterschied. Er ist nicht der Erstgeborene ... und solange der König seinen Verrat nicht zugibt, bleibt der Erstgeborene der Erbe.«

      Sprechen strengte ihn an, er wurde zunehmend blasser und schwächer. Er musste ungeheuerliche Schmerzen haben, ich fragte mich, wie lange er schon hier lag und mit dem Tod kämpfte. Er hatte wohl auf mich warten wollen.

      »Du hättest es mir sagen sollen!«, warf ich ihm vor, aber meine Stimme klang dünn. Dünn vor Trauer. Ich konnte nicht einmal verhindern, dass ich Tränen des Unglaubens in den Augen hatte. Ich war froh, dass auch Derricks silberne Augen feucht im Schein der Kerze schimmerten, so kam ich mir nicht ganz wie ein weinerlicher Junge vor.

      Menard nahm erneut meine Hand und zwang mich, meine Finger um den Dolchgriff zu schließen, den er mir gegeben hatte. »Wenn du aus den Schatten heraustrittst, ist dein Vater gezwungen, dich anzuerkennen ... und das Volk wird die Wahrheit erfahren. Sie werden dir folgen, Melecay.«

      In mir entfachte wieder dieses Feuer, das ich immer spürte, wenn Menard mit mir sprach. Er gab mir das Gefühl, alles schaffen zu können, und das nur, weil ich der war, der ich war.

      »Du hättest mich nicht bremsen dürfen«, sagte ich zu ihm. »Dann wäre ich jetzt nicht gezwungen ...« Mein Blick fiel auf den Dolch, meine Hand umfasste ihn fest.

      »Die Schriften waren wichtig ...« Menard brach ab, seine Augen schlossen sich.

      Ich runzelte die Stirn. »Menard?«

      Der Schamane kämpfte gegen den Sog des Todes und öffnete noch einmal die Augen.

      »Du musst sie lesen«, flüsterte er mir zu. »Mir bleibt keine Zeit, dir alles zu erklären ...«

      »Dann versuch es!«, presste ich durch die Zähne hervor.

      Menard schüttelte den Kopf. »Die Drachen ...« Er atmete einige Male sehr schwer und flatternd, ich dachte schon, es wäre vorbei. Doch dann sagte Menard noch: »Es ist in deinem Blut. Du kannst sie beherrschen.«

      ***

      Nachdem ich Menard – dem einzigen Mann, den ich als Vater bezeichnet hätte – einen schnellen und sauberen Tod geschenkt hatte, trat ich gefolgt von einem betrübten Derrick aus der dicken Steintür der Zuflucht.

      Sonnenlicht strahlte auf mein blondes Haar, doch ich fühlte die Wärme nicht. Ich war wie betäubt und blieb stehen, sobald ich herausgetreten war. Ich ließ den blutigen Dolch fallen und er kam klappernd neben meinen Füßen auf dem Boden auf.

      Es war seltsam, trotz der vielen anderen Geräusche, darunter das Geplapper meiner Männer, ihr Fluchen, trotz dem Schnauben der Pferde, dem Wind


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