Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman). H. G. Wells

Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman) - H. G. Wells


Скачать книгу
Sie irgend jemandem vorgestellt werden? Ich kenne sie allesamt.«

      Er machte Mr. Parham mit zwei Gräfinnen und seiner Schwägerin, Lady Judy Percival bekannt, die sich zufällig in nächster Nähe befanden; daraufhin verschwand er. Die Vorstellung hatte nicht viel Zweck, denn die drei Damen sprachen vorwiegend nur untereinander, während Mr. Parham nachdenklich die Menge betrachtete. Die gehobene Stimmung ob seines Erfolges bei Gabrielle Greuze war einigermaßen abgeebbt. Vielleicht, überlegte er, würde er sie später von ihren Freundinnen aufs neue absondern und das Gespräch mit ihr wieder aufnehmen können. In einiger Entfernung bemerkte er Sir Titus, dessen hohe Stirn ihm ein wenig schief über dem einen Auge zu sitzen schien, während sein Arm deutlich sichtbar die Taille einer schlanken, dunkelhaarigen Dame in Grün umfaßt hielt. Der Anblick brachte Mr. Parham seine eigene Würde in Erinnerung. Er lehnte sich gegen eine Mauer und verhielt sich still beobachtend.

      Seltsam, zu denken, daß diese Abendgesellschaft da, von einem Londoner Plutokraten in einem Hotel gegeben, in physischer Hinsicht höchstwahrscheinlich weitaus glänzender und schöner war, als irgend ein höfisches Fest der elisabethanischen oder jakobinischen Zeit. Wie klein und düster müßte solch eine gesellige Veranstaltung der Vergangenheit wirken, überlegte Mr. Parham, wenn man sie neben das bunte Schaugepränge des heutigen Abends stellen könnte. Brokate und Reifröcke, weder allzu neu noch sauber, von Kerzen und Fackeln beleuchtet. Erstaunlich, diese materielle Üppigkeit unserer Zeit! Doch jene kleinen Versammlungen bei trübem Licht hatten ihren Shakespeare, ihren Bacon, ihren Burleigh und ihren Essex gehabt. Sie waren durch und durch Geschichte geworden. Bücher waren über sie geschrieben worden, Studien und Kommentare, immer wieder wurde auf sie angespielt. Jede geringste Huld der jungfräulichen Königin war heute bedeutsam für die ernstesten Gelehrten. Kleine Räume vielleicht, aber große Zeiten.

      Jedoch dies bunte Getriebe von heute – wohin führte es? Konnte es jemals Geschichte werden in irgend einem Sinne des Wortes? Auf den Hof der Königin Elisabeth gingen die ersten Anfänge Amerikas zurück, jene Menschen hatten den Grundstein zur modernen Wissenschaft gelegt, sie hatten die englische Sprache geformt – die englische Sprache, der diese Leute hier mit ihrem Kauderwelsch und ihrer lakonischen Durchtriebenheit eilends den Garaus machten. Vielleicht waren einige Künstler unter ihnen, vielleicht ein Gelbschnabel von einem Lustspieldichter. Mr. Parham war gerne bereit, Zugeständnisse an einzelne ihm möglicherweise Unbekannte unter der Menge zu machen – trotzdem blieb das Ergebnis des angestellten Vergleiches erschrecklich.

      Die Jazz-Musik erklang aus dem Hintergrunde des Saales und begann ihm auf die Nerven zu fallen. Sie drang über die Köpfe der Versammelten hinweg, ungeheuerlich, als ob sie ihn suche, und alsbald war es, als hätte sie ihn entdeckt und rüttle und schüttle ihn nun. Mit einem Aufschrei, der, unendlich melancholisch, an Rufe aus der Dschungel gemahnte, griff sie ihm plötzlich ans Herz, um sich gleich darauf in hämmernde Trivialität zu verlieren und so zu tun, als sei sie stets nur trivial. Sie wurde intim; sie schien obszöne Gedanken erwecken zu wollen. Er erkannte, wie notwendig es war, hier ohne Unterlaß zu tanzen oder zu sprechen, schnell und laut zu sprechen, wenn man der Schar schwarzer Musikanten nicht wehrlos ausgeliefert sein wollte. Wie fremdartig sie doch waren, fast als gehörten sie einer anderen Gattung Lebewesen an! Mit ihren glänzenden, triumphierenden Gesichtern, ihren drängenden Gebärden. Was würde die jungfräuliche Königin, was ihr geliebter und getreuer Burleigh zu dem Kapellmeister da drüben mit dem Gesicht aus Bronze gesagt haben?

      Seltsam, zu denken, daß sie sozusagen den Grundstein zu dem Lande Virginia gelegt hatte, aus dem der Kerl aller Wahrscheinlichkeit nach stammte. Der Kerl, der da hinter den Weißen herzuhetzen schien, sie zu einer geheimnisvollen Verleugnung, ja Vernichtung ihres eigentlichen Wesens trieb. Sie bewegten sich gleich Marionetten in dem Takte, den er schlug …

      Diese Betrachtungen eines scharf beobachtenden, nachdenklichen und mit reichem Wissen ausgestatteten Geistes wurden durch das Wiedererscheinen des Lord Tremayne unterbrochen, der eine der Damen, die er Mr. Parham bereits vorgestellt hatte, am Arme führte.

      »Hier ist er«, rief Tremayne fröhlich. »Sie kennen meine Kusine Lady Glassglade! Wenn irgend jemand, so kann er dir die Angelegenheit Westernhanger auseinandersetzen. Er hat neulich famos darüber gesprochen, einfach famos!«

      Mr. Parham blieb mit Lady Glassglade allein.

      Die Glassglades hatten ein Besitztum in Worcestershire und waren ganz gewiß Leute, die man kennen soll. Was aber die Dame hier wollte, war nicht recht begreiflich. Verwunderlich, wie weit Sir Bussys gesellschaftliche Beziehungen reichten. Sie war eine freundlich lächelnde und sehr selbstbeherrschte kleine Dame mit ein wenig angegrautem Haar. Mr. Parham verbeugte sich anmutig. »Wir sind hier der Musikkapelle zu nahe, um plaudern zu können«, sagte er. »Wollen wir in den Speisesaal hinuntergehen?«

      »Da war es vorhin furchtbar voll, ich konnte nichts bekommen«, sagte die Dame.

      Mr. Parham gab ihr zu verstehen, daß das nun anders werden sollte.

      »Und ich bin eigentlich nur hierher gekommen, weil ich so hungrig war!«

      Reizend! Sie vertrugen sich sehr gut miteinander, und er sorgte dafür, daß sie etwas zu essen bekam. Mit ruhiger Gelassenheit bestand er darauf, diese Aufgabe auf sich zu nehmen. Sie sprachen von dem Glassgladeschen Besitz in Worcestershire und dem so durchaus englischen Zauber Oxfordshires; dann kamen sie auf ihren Gastgeber zu reden. Lady Glassglade erklärte, sie finde Sir Bussy »einfach wunderbar«. Sein Urteilsvermögen im Geschäftsleben sei instinktiv, habe sie sagen hören, unglaublich schnell überblicke er die Dinge, während andere Leute umherliefen und Erkundigungen einzögen. Er müsse acht bis zehn Millionen im Vermögen haben.

      »Und doch dünkt er mich einsam«, meinte Mr. Parham. »Einsam und losgelöst.«

      Lady Glassglade stimmte dem zu.

      »Wir haben ihn nicht assimiliert«, sagte Mr. Parham, und sein Gesichtsausdruck deutete auf ein fein organisiertes soziales System hin, das an einer Verdauungsstörung litt.

      »Nein«, bestätigte Lady Glassglade.

      »Ich habe ihn erst vor kurzem kennen gelernt«, sagte Mr. Parham. »Er dünkt mich merkwürdig typisch für unsere Zeit. Dieser neue Reichtum ist so sicher und kühn, doch fehlt es ihm in so unglaublichem Maße an dem noblesse oblige.«

      »Das stimmt«, meinte Lady Glassglade.

      Beide füllten ihre Gläser aufs neue mit Sir Bussys Champagner.

      »Wenn man bedenkt, wie ernst unser alter Landadel seine Standespflichten stets genommen hat …«

      »Ganz richtig«, sagte Lady Glassglade traurig.

      Doch dann raffte sie sich zusammen: »Trotzdem ist er eine amüsante Erscheinung.«

      Mr. Parham stellte sich auf einen höheren Standpunkt. Er blickte auf die Vergangenheit zurück und faßte die dunkle Drohung der Zukunft ins Auge. »Ich weiß nicht«, meinte er.

      Lady Glassglade und Mr. Parham blieben ziemlich lange plaudernd beisammen. Mit ernstem Humor entwickelte er den Plan, daß Oxford Fortbildungskurse für die neuen Reichen werde einrichten müssen. Lady Glassglade schien sehr belustigt über diesen Gedanken.

      »Als Nebenfächer Tennis, Tischmanieren, Waldhühnerjagd und Golf.«

      Die Eindrücke, die Mr. Parham in Sir Bussys Gesellschaft gewann, verloren an Schärfe, je weiter die Nacht fortschritt. Irgendwie wurde er von Lady Glassglade getrennt. Als er davon sprach, daß jede Aristokratie, auch eine, die es nur dem Namen nach sei, die Pflicht habe, den Massen Führer zu sein, wandte er den Kopf, um festzustellen, ob sie den Sinn dieser Bemerkung auch recht erfasse: doch da war sie verschwunden, offenbar schon seit längerer Zeit. An Stelle des rhythmisch bewegten Flimmerns in seiner Geistesverfassung war allmählich etwas wie ein goldenes Dämmerlicht, eine schwere und doch humorvolle Feierlichkeit getreten. Er sprach mit fremden Leuten über den Gastgeber des Abends. »Er ist ein einsamer und führerloser Mensch«, sagte Mr. Parham. »Und warum? Weil er keine Tradition hat.«

      Eine lange, lange Zeit hindurch stand er, wie er sich später erinnerte, ganz still und betrachtete bewundernd und voll Mitleid eine schöne schlanke Frau mit


Скачать книгу