Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman). H. G. Wells
Etwas wie ein Empfang ging vor sich. Plötzlich erschien Sir Bussy.
»Fein«, sagte er erfreut. »Wir müssen nachher gemütlich plaudern. Kennen Sie Pomander Poole? Sie brennt darauf, Sie kennen zu lernen.«
Er verschwand, und Mr. Parham hatte an dem Abend kein einziges Mal Gelegenheit, mehr mit ihm zu reden als ein paar flüchtig hingeworfene Sätze, obgleich er ihn von ferne her immer wieder erblickte, ein wenig verstimmt geschäftig oder erkünstelt fröhlich.
Miss Pomander Poole begann sehr ernst damit, daß sie Mr. Parham um seinen Namen fragte, den Sir Bussy aus Nachlässigkeit oder in augenblicklicher Vergeßlichkeit nicht genannt hatte. »Parham ist der Name des Mannes, den Sie so gerne kennen lernen möchten«, sagte Mr. Parham mit einem bestrickenden Lächeln, das alle seine ausgezeichneten Zähne sehen ließ, ausgenommen die Backenzähne selbstverständlich.
»Bussy erinnert heute abend mehr als je an einen Floh«, sagte Miss Pomander Poole. »Er ist wie eine verlorene Stecknadel oder ein winziges Sandkörnchen. Ich habe schon sechs Leute gesehen, die vergeblich hinter ihm her jagten.«
Sie war eine dunkelhaarige, hübsche Dame mit unruhigen Augen und mehr Körperfülle als heute modern ist. Ihre Stimme war tief und wohlklingend. Sie blickte über den länglichen Saal hin, in dem sie sich befanden. »Warum in aller Welt gibt er wohl diese Gesellschaften? Ich kann es nicht begreifen!« sagte sie, seufzte und schwieg dann, um zu zeigen, daß sie zur Anknüpfung eines Gesprächs nunmehr das Ihrige getan hatte.
Mr. Parham war einigermaßen unentschlossen. Er hatte den Namen Pomander Poole schon oft genug gehört, wußte aber im Augenblick durchaus nicht, ob im Zusammenhang mit Büchern, Zeitungsartikeln, Theaterstücken, Bildern, Skandalgeschichten und Gesellschaftstratsch oder mit der Welt der Varietékunst. Wie sollte er da den ungezwungenen, aufmunternden und dabei überlegenen Gesprächston finden, der einem Philosophen in weltmännischer Stimmung geziemt? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zunächst auf Äußerungen zu beschränken, die einer Ausfragerei bedenklich nahe kamen.
»Ich kenne unseren Wirt erst seit ganz kurzer Zeit«, sagte er. Der Satz zielte offenkundig auf Erläuterungen ab.
»Er existiert gar nicht«, sagte sie.
Allem Anscheine nach gedachte seine Partnerin durch Geist zu glänzen, und da war nun Mr. Parham gewiß nicht der Mann, der seine Stichworte verfehlt. »Wir sind also einem Phantom begegnet«, meinte er.
Sie ging völlig achtlos über diese Antwort hinweg. »Er existiert nicht«, seufzte sie noch einmal. »Infolgedessen jagen nicht nur seine Nebenmenschen vergeblich hinter ihm her, auch er selber kann sich sozusagen niemals erwischen. Alle Tage dreht er sein Bettzeug um und um und sucht seine eigene Person. Aber es nützt ihm nichts.«
Die Dame besaß nicht nur Körperfülle, sondern auch einen üppigen Witz.
»Er erwirbt Reichtümer«, sagte Mr. Parham.
»Die Natur verabscheut ein Vakuum«, sagte sie mit der müden Lässigkeit eines Menschen, der ein längst bekanntes Frage- und Antwortspiel über sich ergehen läßt. Ihre unruhigen, forschenden dunklen Augen blickten in die Runde, als ob sie sich nach irgend jemandem umsähe, der sie von Mr. Parham befreien mochte.
»Heute abend ist das Vakuum von interessanten Menschen erfüllt.«
»Ich kenne die wenigsten.«
»Ich bin unweltlich genug, um ihre äußere Erscheinung interessant zu finden.«
»Und ich weltlich genug, um mich davon nicht blenden zu lassen.«
Aufs neue trat eine peinliche Pause des Stillschweigens ein. Mr. Parham wünschte, seine Gefährtin könnte hinweggezaubert und jemand Angenehmerer an ihre Stelle gesetzt werden. Doch sie rettete die Situation. »Es ist wohl noch zu früh, um zum Souper hinunter zu gehen«, sagte sie; »hinunter oder hinauf – ich weiß nicht, wo der Speisesaal ist. So eine Vakuum-Gesellschaft erzeugt ein außerordentliches Gefühl der Leere in mir.«
»Wir wollen es erforschen«, meinte Mr. Parham, setzte sein Lächeln wieder auf und nahm die Dame ins Schlepptau.
»Ich glaube, ich habe Sie in der Royal Institution einen Vortrag halten gehört«, erklärte sie.
»Ich bin noch nie dagewesen«, entgegnete Mr. Parham.
»Ich habe Sie aber da gesehen. Schon öfter. Und zwar gewöhnlich zwei oder drei Herren, die ganz so aussehen wie Sie. Sie sind ein Mann der Wissenschaft.«
»Hochschullehrer, meine Gnädigste. Historiker. Mit einigen Lieblingsthemen, die ich immer und immer wiederkäue – und einem tintigen Zeigefinger.«
Das war gar nicht übel. Miss Poole betrachtete ihn, als ob sie sein Vorhandensein jetzt erst merke. Ein Strahl des Interesses leuchtete in ihrem Gesichte auf, erlosch aber sofort wieder.
Wenn wir sagen, daß Mr. Parham auf der Suche nach dem Speisesaale die Dame ins Schlepptau genommen habe, so entspricht diese Ausdrucksweise mehr seinen Absichten als den Tatsachen. In Wirklichkeit schritt sie ihm voran, während sie sich durch die glänzende Menge hindurchwanden – ein wenig zerstreut vielleicht, aber trotzdem zielbewußt. Das Souper hatte tatsächlich bereits begonnen, und zwar sehr nachdrücklich und lärmend, und Miss Poole, immer noch ihrem Begleiter um einige Schritte voraus, wurde von einer Gruppe von Leuten begrüßt, die allem Anscheine nach eigentlich noch nicht aßen, sondern zunächst Vorräte zusammentrugen. »Was sagen Sie heute abend, Pomander?« rief ein hübscher junger Mann, und sie mischte sich in die Gruppe, ohne daß sie irgendwelchen Versuch gemacht hätte, Mr. Parham vorzustellen. »Ich zweifle an Bussys Existenz«, erwiderte Miss Poole, »und sehne mich nach seinen guten Gaben.«
»Ganz wie es ein moderner Christ mit seinem Gotte hält«, meinte jemand.
Mr. Parham schritt rings um die Gruppe herum und gelangte an die glänzende Tafel. Sie war reich besetzt, und das einzige Getränk, so schien es Mr. Parham, war Champagner in Kristallkaraffen. Er füllte ein Glas für Miss Poole, doch sie war bereits versehen; so trank er es selbst, tat so, als ob er sich an dem Gespräch der Leute, die ihm samt und sonders den Rücken zukehrten, beteilige, blickte amüsiert drein und verzehrte mit einer Miene nachlässiger Ungezwungenheit einige belegte Brötchen. Miss Pooles Laune war beträchtlich fröhlicher geworden. Sie klatschte einem dicken Juden ein Gänseleber-Sandwich auf die Wange – aus keinerlei ersichtlichem Grund. Vielleicht mochte sie ihn gerne. Oder es war weiter nichts als Übermut. Sie brachte das Gespräch wieder auf Sir Bussy und äußerte noch einmal, daß er ihrer Meinung nach alle Tage seine eigene Person zwischen seinem Bettzeug suche, welches witzige Bild allgemeines Entzücken erregte. Inmitten des lebhaften Beifalls drehte sich ein schmächtiger blonder Jüngling mit geheimnisvoll wichtigtuerischer Miene zu Mr. Parham um, wiederholte das Scherzwort sorgfältig und vergaß ihn daraufhin sogleich wieder.
Mr. Parham versuchte zu übersehen, daß die Gruppe sich nicht im geringsten um ihn kümmerte, doch war das Gefühl, daß dem so sei, recht stark in ihm vorhanden, und um darüber hinweg zu kommen, trank er noch ein Glas Champagner. Da entdeckte er dicht neben sich Sir Titus Knowles, der offensichtlich bei einer benachbarten Gruppe fröhlicher junger Leute dieselbe Behandlung erfahren hatte. »Hallo!« sagte Mr. Parham. »Sie hier?«
»Ein entzückendes Fest«, sagte Sir Titus heuchlerisch, und dann stand plötzlich, als wäre sie vom Himmel gefallen, eine ganz reizende junge Blondine zwischen ihnen, erhitzt und allerliebst. Sie wandte sich anscheinend völlig außer Atem an den großen Spezialisten.
»Suche Herrn namens Parham, Sir Titus«, erklang ihre warme, verschleierte Stimme. »Aber vor allem muß ich etwas zu essen haben, bitte.«
Dieser dringendste Wunsch wurde erfüllt. »Als ich Bussy fragte, wie er aussehe, sagte er: ›Oh, Sie werden ihn schon erkennen, wenn Sie ihm begegnen.‹ Ich muß ihn finden und ihn zum Tanzen kriegen. Hab mit Bussy gewettet, daß es mir gelingt. Parham. Soll ich herumgehen und den Namen ausrufen? Wahrscheinlich ist eine Million Menschen da. Man wird mich als zudringliche Person vor die Tür setzen.«
Sie entdeckte eine belehrende Grimasse auf dem Gesichte des Sir Titus, begriff die Situation und