Layla. Stephan Lake
hingen keine Erdklumpen mehr daran.
„Ich muss los. Bis morgen dann, Herr Lamberty.“
Herr Lamberty zog an der Zigarette und nickte.
Ursprünglich hatte Elijah zu Fuß gehen wollen – na ja, gehen müssen – quer durch die Stadt in den anderen Stadtteil, der wie eine neue Welt für ihn sein würde. Kürenz. Wie sonst sollte er dorthin kommen ohne Geld und ohne Fahrrad oder Moped. Aber jetzt hatte er Geld, zwanzig Mark, und der Regen hatte zugelegt. Als er an die Hauptstraße kam, war seine Jacke bereits nass. Er würde einen besseren Eindruck hinterlassen, wenn er einigermaßen trocken ankäme.
Ein Bus hielt an der Haltestelle. Elijah winkte und sprang hinein und legte dem Fahrer einen der beiden Zehner hin. Hinter ihm zischte die Tür zu. Aber der Bus fuhr nicht ab.
„Hast du‘s nicht kleiner?“
„Nein.“
„Nehm ich nicht. Keine Scheine. Keine Zehner. Wenn du‘s nicht kleiner hast, musst du wieder aussteigen.“
„Ich habs aber nicht kleiner.“
„Dein Pech, nicht meins.“
„Es regnet. Ich habe Geld. Sie sind verpflichtet, mich mitzunehmen.“
„Verpflichtet bin ich überhaupt nichts, junger Mann.“ Der Fahrer drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett. Die Tür zischte wieder auf. „Und jetzt, entweder Kleingeld oder raus. Meine Fahrgäste wollen weiter.“
Elijah guckte in den Bus. Zwei ältere Damen saßen da, mit Hut, Handtasche auf dem Schoß. Beide guckten gelangweilt aus dem Fenster. Ansonsten war der Bus leer.
Elijah sah den Fahrer an. Ein bärtiger Kerl mit strähnigen Haaren.
„Also, was jetzt?“
Er würde pünktlich nach Kürenz kommen, das schon, er hatte genügend Zeit eingeplant. Aber er würde vor Nässe triefen und mit seiner alten Kleidung stinken wie ein Hund. Und es war kalt.
„Typisch“, sagte Elijah und stieg aus.
„Was hast du gesagt?“
Elijah drehte sich um und sah dem Fahrer direkt in die Augen. „Typisch, hab ich gesagt.“
Aber der Fahrer blieb sitzen und guckte nur und drückte dann den Knopf. Die Tür zischte zu und zugleich fuhr der Bus los.
Elijah sah dem Bus hinterher. „Typisch für euch Erwachsene.“ Hauch wirbelte vor seinem Mund.
Elijah schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging los. Die Hauptstraße entlang, wo in einem Hauseingang ein paar Jungs und Mädels aus seinem Viertel rumhingen und rauchten und eine Bierflasche kreisen ließen. Sie sahen ihn mit seiner Tasche, zwei der Mädchen riefen etwas, aber er antwortete nicht. Dann über die Eisenbahnbrücke, wo er auf der anderen Seite Moppe sah. Moppe war allein, Tschako und die anderen waren nicht bei ihm. Moppe sah nicht sehr glücklich aus mit seinen herunterhängenden Schultern. Vielleicht war er auf dem Weg ins Krankenhaus, wo er wieder seiner Mutter helfen musste, die arbeitete da in der Kantine. Moppe hasste das Krankenhaus und die Kantine, und er hasste seine Mutter.
Elijah guckte vor sich auf den Boden und tat, als wäre er in Gedanken, was ihm nicht schwer fiel. Moppe beachtete ihn nicht; vielleicht erkannte er aber Elijah auch nicht, Moppes Brille hatte sehr dicke Gläser, und dann der Regen.
Über die Moselbrücke gingen sie beinahe parallel, Moppe links auf dem Bürgersteig und etwas vor, er rechts und etwas zurück, dazwischen die Straße und unter ihnen die Mosel, die nach dem ständigen Regen der letzten Wochen über die Ufer getreten war. Danach trennten sich ihre Wege. Moppe bog links ab, tatsächlich Richtung Krankenhaus, Elijah ging geradeaus weiter. So lange, bis er zum alten Bunker kam.
Er drückte die Klinke, aber die Eisentür war verschlossen. Wie immer. Die Tür war immer verschlossen. Tschakos Bruder hatte einmal behauptet, er wäre im Bunker gewesen, die Tür wäre offen gewesen, und er wäre hinein gegangen und wäre durch den gesamten Bunker gelaufen. Elijah glaubte das nicht. Der Bunker war ein Kriegsbunker, die Tür war immer verschlossen. Und Tschakos Bruder saß heute in der Gottbillstraße, was schon alles sagte.
Elijah drückte sich gegen die Tür und tauschte das nasse Shirt gegen das trockene aus seiner Tasche. Er hätte das früher machen sollen, sein Pullover war auch bereits feucht. Aber zu spät. Er besaß keinen zweiten Pullover. Er fragte sich, warum Moppe seine Mutter so hasste, sie hatte einen festen Job im Krankenhaus, das war doch nicht schlecht, und sie war immer nett zu Moppe und zu Elijah und zu anderen im Viertel auch. Elijah hatte sie auch noch nie betrunken gesehen, und er wettete, dass sie Moppe auch einen zweiten Pullover gekauft hatte.
Er ging weiter über den Parkplatz und vorbei an seiner Schule, am Theater, am Markt mit der Frittenbude.
Hinter sich hörte er ihre Stimme.
„Eli, hey, warte. Warte auf mich. Eli!“
Ihre helle, weiche Stimme. Unverkennbar. Einzigartig geradezu. Und nur eine nannte ihn Eli. Nur eine Einzige. Sein Herz raste, noch bevor er sich umgedreht hatte.
„Hey, Layla. Wo ist Tschako?“ Er lächelte Layla an.
Sie trug ihre langen und beinahe schwarzen Haare offen wie immer, und wie immer hatte sie ihre Lieblingsjacke an, die ihr so phantastisch stand. Ein dunkelblauer Seidenblouson mit Schulterpolstern. Sie sah aus wie ein Fernsehstar. In der Hand hielt sie einen Regenschirm, so dunkelblau wie ihre Jacke.
Ihr Lächeln verschwand. „Was fragst du nach ihm?“
Tschako und Layla waren ein Paar, jeder im Viertel wusste das. Und keiner wagte, Layla auch nur anzusehen oder mit ihr zu sprechen, geschweige sie anzulächeln. Keiner, außer Elijah.
Elijah spannte niemandem die Freundin aus, so etwas tat er nicht. Aber wenn Layla mit ihm sprach und ihn anlächelte, und sie tat das ab und zu, dann was? Dann sprach er auch mit ihr und lächelte sie an. Tschako war kein Grund unfreundlich zu Layla zu sein.
„Ich dachte nur. Ihr hängt doch immer zusammen rum.“
„Ich häng rum, mit wem ich will.“
„Schon klar. Wo sind Blondie und CC?“
„Blondie ist mit ihren Eltern unterwegs. CC, keine Ahnung. Wo gehst du hin?“
„Kürenz.“ Elijah ging weiter. Layla blieb neben ihm und hielt den Schirm hoch genug auch für ihn.
„Kürenz? Was willst du da? Das ist weit, willst du da zu Fuß hin?“
„Lass mich.“ Elijah nahm ihr den Schirm aus der Hand. „Wenn Tschako oder einer der anderen uns sieht, dann bekommst du Ärger“, sagte er.
„Du meinst wohl, du bekommst Ärger. Was willst du in Kürenz?“
Elijah sagte, „Ich gucke mir da eine Wohnung an“, und konnte nicht verhindern, dass sich in seinem Gesicht ein Lächeln ausbreitete. „Wenn alles gut läuft, wohne ich ab heute da.“
„Du ziehst weg? Echt jetzt?“ Und als er nickte, „Darüber freust du dich ja gewaltig, so, wie du grinst.“
Elijah korrigierte sie nicht. Er freute sich gewaltig auf Kürenz, auf die Chance, keine Frage. Die Chance, endlich sein eigenes Leben zu beginnen.
Aber der Grund für sein Lächeln war ein anderer. Er lächelte, weil Layla sich bei ihm eingehängt hatte. Sie gingen Arm in Arm, und es fühlte sich großartig an. Als sollte es genau so sein.
Und jetzt sagte sie auch noch, „Kann ich mitkommen?“
6
Elijah zeigte dem Wärter seinen Ausweis und passierte die Schleuse und legte Telefon und Dienstwaffe in die Stahlkassette und zeigte erneut seinen Ausweis, dieses Mal einer Frau in der gleichen beigen Uniform, die bei ihr jedoch Falten warf, so schlank war sie, zierlich geradezu. Sie sagte, ihr Name wäre d’Antonio.