Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich

Lügen mit langen Beinen - Prodosh Aich


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Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Manipulation eines Originals nicht mehr feststellbar. Diese Technik macht es möglich, daß beliebig viele Kopien des Originals und Kopien von Kopien ohne Qualitätsverlust hergestellt werden können. Nicht eine gewaltige Kulturleistung? So wird uns diese Technologie verkauft. Sie leistet noch mehr. Sie öffnet der Fälschung Tür und Tor. Denn im Klartext heißt diese Technologie nämlich, daß ein Dokument, ein Bild, ein Klang in Ziffern aufgelöst, beliebig oft neu geschrieben und wieder in Dokument, oder Bild oder Klang umgewandelt werden kann. Natürlich können unterwegs einige Ziffern verloren gehen, oder auch verschwinden oder aber auch hinzugefügt werden. Am Ende steht eine Endanfertigung und sie steht eben, ausschließlich und endgültig. Hauptsache sie ist schön und vermarktbar. Fortschritt eben!

      Kehren wir zurück zur Schrift. Mit der Erfindung der Schrift als Mittel (Medium) des Austausches (der Kommunikation) gehen uns die Höhen und Tiefen des Klangs beim Erzählen und die Regungen im Gesicht als Ausdruck des Gemütszustandes verloren. Auch die Gelegenheiten zur Klarstellung und zur gemeinsamen Einschätzung. Es ist eigentlich unwichtig herausfinden zu wollen, wo und wer auf dieser Erde sich zum ersten Mal als Erfinder der Schrift brüsten konnte. Und wer sich brüsten will, muß es wohl nötig haben. Es wäre auch ohnehin eine Reise in die Sackgasse, eine Beschäftigungstherapie, typisch für eine „Guinnessbuch-Kultur“ oder, was noch schlimmer wäre, ein Ablenkungsmanöver von wesentlichen Fragen. Denn selbst wenn zweifelsfrei festgestellt werden würde, wo, wann und von wem die Schrift zuerst erfunden wurde, hätten wir als Menschheit davon keinen brauchbaren Erkenntnisgewinn. Eher eine Vergeudung von Energie und Zeit, die zum wirklichen Erkenntnisgewinn dann fehlen könnte. Zum Beispiel bei folgenden Überlegungen.

      Es ist allseitig unbestritten, daß die Erde einige Millionen Jahre und die Menschheit einige hunderttausend Jahre älter ist als Moses uns „glauben machen“ will bzw. die christliche Zeitrechnung zählt. Es ist auch unbestritten, daß der Mensch als gesellschaftliches Wesen vom Beginn an über den bloßen Reflex auf Umweltreize hinaus Erfahrungen gemacht, über die Erfahrungen nachgedacht hat, Erfahrungen prognostiziert, die Bedingungen im Umfeld gespeichert, mit den Zeitgenossen ausgetauscht, sich dabei gegenseitig ergänzt und anderen berichtet hat. Diese unmittelbaren Beobachtungen und Erfahrungen und deren Weitergabe markieren die Geburtsstunde der Wissenschaft. Wir können beim besten Willen nicht nachvollziehen, wenn gemeinhin behauptet wird, daß die wirkliche Wissenschaft die „moderne Wissenschaft“ sei, die durch Experimente, also durch das Wiederholen unter kontrollierten Bedingungen gekennzeichnet ist und etwa seit 300 Jahren praktiziert wird. Beginnend in Europa, nunmehr mit steigender Tendenz weltweit verbreitet. Diese Zäsur hat sich nicht so einfach willkürlich eingeschlichen, sie ist nicht nur falsch, sie ist eine Fälschung.

      Uns fehlt das Vermögen zu glauben, daß die Akteure der „modernen Wissenschaft“ sich dessen nicht bewußt sind bzw. gewesen sind, daß ihre Tätigkeit auf den Tätigkeiten ihrer Vorfahren basierte. Und daß jedes Experiment vorhandenes Wissen voraussetzt. Logisch kann es keine Hypothesen ohne Thesen geben, ebenso keine Thesen ohne einen Sockel aus gesichertem Wissen. Wie konnte es dennoch geschehen, daß die „modernen Wissenschaftler“ nur das eigene Tun als die wirkliche Wissenschaft ausgeben, und damit alles frühere als nicht wissenschaftlich herabwürdigen? Und dies angesichts jener mühsamen Ansammlung von Beobachtung, Wahrnehmung, Deutung, Bewertung, Meinungsbildung, Austausch und der fortwährenden Überprüfung im wirklichen Leben. Nicht im Labor!

      Wie kann es bis zu unseren Tagen geschehen, daß diese Fälschung auch noch weltweit vermarktet werden kann? Eine interessante Frage und eine wichtige Frage. Wir müssen diese Frage hier als einen Denkposten belassen. Wir halten nur fest, daß die Zäsur „moderne Wissenschaft“ nicht nur falsch ist, sie ist auch problematisch, weil hiermit unter der Hand ein weiter Bereich menschlicher Erfahrung durch diese Verengung ausgegrenzt wird, nämlich die Metaphysik. Alles was das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ übersteigt, soll es auch nicht geben. Wir werden sicherlich keinen Widerspruch mit unserer Behauptung ernten, daß das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ sehr vom Markt geprägt wird.

      *****

      Aber kehren wir zu dem zurück, was noch allseitig unbestritten ist, nämlich die Geburtsstunde des Zusammentragen und des Speichern von Wissen im Kopf durch unsere Vorfahren. Wir stellen uns vor, daß sie als wachsame Beobachter (Empiriker) bald gemerkt haben, daß sich beim Abrufen der im Kopf gespeicherten Erfahrungen Fehler einschleichen können. Was tun? Viele Wege müssen gegangen worden sein, um das einmal gewonnene Wissen auch für die Nachwelt sicher zu erhalten. Wir können nachvollziehen, daß die Technik des Absichern eine Bandbreite gehabt hat. Von den kollektiven Übungen der fehlerfreien Abrufens, Konstruktion von Eselsbrücken, Dichtung von lebensnahen Erzählungen über unterschiedlichste Geschehnisse, Verse über Ereignisse und Erkenntnisse mit unterschiedlicher Metrik, Klängen, bis hin zu Markierungen außerhalb des Kopfspeichers auf witterungsbeständigen Materialien. Und die Markierungen sind über Zeichnungen, graphische Darstellungen, Symbole zu Buchstaben und zur Schrift geworden. Durch die Vielfalt der überlieferten Medien unterschiedlicher Reichweite und Qualität legen unsere Vorfahren uns nah, daß sie über einen möglichen Verlust des von Angesicht zu Angesicht gewonnen Wissens sehr besorgt gewesen sind und deshalb möglichst viele Außenspeicher als Stütze des Kopfspeichers anlegten. Damit übermitteln sie uns auch, daß sie keinen der Außenspeicher als Ersatz ansahen. Die Entwicklung der „Phonetik“ in der Schrift ist der Hinweis, wie besorgt sie über den Verlust des Klanges bei der Nutzung von Außenspeichern waren.

      Es ist auch unbestritten, daß die Erfindung und Entwicklung von Schrift als Träger der Sprache eine gewaltige Kulturleistung gewesen ist. Die Schrift hat es möglich gemacht, daß das angesammelte Wissen – wenn auch in einer etwas abgemagerten Form – außerhalb des menschlichen Kopfes gespeichert werden konnte. Dadurch wird die Begrenzung des Raumes und der Zeit für den geistigen Austausch überwunden. Auch wird der Umfang von Erfahrungen und Einschätzungen vergrößert. Die Schrift als Außenspeicher, als eine mittelbare Ergänzung zum unmittelbaren Austausch, bereichert unsere Wahrnehmung und Erfahrung. Ohne jeden Zweifel.

      Bekanntlich hat jede Lichtseite auch eine Schattenseite. Seit es die Schrift gibt, scheint der Umfang des unmittelbaren Austausches aus welchen Gründen auch immer tendenziell abzunehmen. So verflüchtigt sich auch nach und nach die Möglichkeit der unmittelbaren Überprüfung, der sofortigen Korrektur des fehlerhaft Wahrgenommenen. Wie oft erfahren wir im Alltag die Schwierigkeit, das, was uns im Kopf klar ist, so in Worte und in Sätze zu fassen, daß es von unserem Gegenüber auch so verstanden wird, wie wir es gemeint haben. Allein vom Ausdruck des Gesichts unseres Gegenübers entziffern wir, ob der gesendete Inhalt ohne Verzerrung und Entstellung ankommt. Im Zweifel wählen wir andere Worte, andere Sätze und wiederholen wir die Sendung. Bei Unverständnis oder Widerspruch geben wir zusätzliche Erläuterungen. Den Austauschvorgang beenden wir im gegenseitigen Einvernehmen. Tendenziell findet also der Austausch von Angesicht zu Angesicht ohne Mißverständnis statt.

      Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, eine Lügengeschichte glaubhaft abzusetzen, äußerst eingeschränkt. Wie heißt es so schön etwas übertreibend? Beim Lügen wackelt unsere Nase. Beim Lesen sind wir auf unser Entzifferungsvermögen und unsere Auffassungsfähigkeit angewiesen, vorausgesetzt, daß die schriftliche Übermittlung einfach und allseitig verständlich abgefaßt ist. Aber was ist, wenn bewußt etwas Falsches übermittelt wird? Beim Lesen sehen wir keine „Nase“! Und unser Eindruck ist, daß wir immer weniger „die Nase“ vermissen, immer bequemer werden und uns mit mittelbarer Unterhaltung begnügen, uns immer williger mittelbar unterhalten lassen, geneigter sind alles zu glauben, was an uns mittelbar herangetragen wird. Bald wird uns die Scheinwelt, die virtuelle Welt heimisch und die wirkliche Welt fremd.

      Es ist nicht unsere Absicht, hier nachzeichnen zu wollen, wie die Dominanz des Außenspeichers und die Verkümmerung des Kopfspeichers im einzelnen verlaufen ist und immer noch verläuft. Wir erinnern uns lediglich an die bereits erwähnten Quantensprünge dieser Entwicklung: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Und wir erinnern uns auch an die Kehrseite dieser Quantensprünge. Sie, die Kehrseite, macht uns darauf aufmerksam, daß der Außenspeicher nie eine Kopie, sondern eine Übersetzung


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