Lügen mit langen Beinen. Prodosh Aich

Lügen mit langen Beinen - Prodosh Aich


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überhaupt? Wir wissen es nicht. Wir sind jedoch erstaunt, daß die sonst so dynamischen, selbstbewußten und klugen „Arier“ offensichtlich sich selbst nicht mit den „Draviden“ verglichen haben, um das eigene Wir–Gefühl zu entwickeln. In keiner alten Sanskritschrift ist die Rede von zwei „Rassen“, noch von einer „Dravidenrasse“, noch überhaupt von Rassen.

      Hätten die „modernen Wissenschaftler“ dieses Fehlen nicht merken und darüber nachdenken müssen? Wie dem auch sei. Wir sind noch nicht mit den uns erzählten Geschichten durch. Die „Arier“ fallen oder wandern in Indien ein, verdrängen die „dravidischen“ Bewohner nach Süden, werden seßhaft, entwickeln ihre mitgebrachte Sprache „Protosanskrit“ fast zur Vollendung, erfinden eine Schrift, verfassen Schriften von hoher kultureller Bedeutung, bringen diese Kultur zu den einst vertriebenen „Draviden“ und setzen die „arische“ Kultur im ganzen Land durch. Bei Helmuth von Glasenapp haben wir sogar den Hinweis bekommen, daß die „Draviden“ auch keine Ureinwohner Indiens sein sollen. Sie sollen in der frühen „frühgeschichtlichen“ Zeit aus ‚Afrika und Melanesien‘ nach Indien eingewandert sein. Wir wollen uns in diesen Streit nicht einmischen. Wir nehmen diese immer noch allseitig akzeptierte Markierung der frühen Geschichte dieser Region zur Kenntnis. Aber wir haben viele Fragen. Es versteht sich von selbst, daß wir in der „modernen wissenschaftlichen Literatur“ auf unsere Fragen keine Antworten gefunden haben. Es ist noch trauriger. Die meisten dieser Fragen sind noch gar nicht gestellt.

      Wie soll beispielsweise das zahlenmäßige Größenverhältnis zwischen den erobernden bzw. einwandernden „Ariern“ und den nach Süden vertriebenen Einwohnern, den „Draviden“, gewesen sein? Können sich diese Wissenschaftler nicht vorstellen, daß je ungünstiger das Zahlenverhältnis der Eroberer oder der Einwanderer zu den Einheimischen gewesen ist, um so unwahrscheinlicher eine Vertreibung der ansässigen Einwohner vom Norden nach Süden gewesen sein muß? In großer Zahl können die „arischen Eroberer bzw. Einwanderer“ den Hindukush nicht passiert haben. Welche Wege standen den Auswanderern aus der Steppe nach Süden zur Verfügung? Wie ist die Beschaffenheit der Wege gewesen? Sind sie während ihrer Wanderschaft auch Menschen begegnet? Welchen? Welche Entfernung müßten sie zurückgelegt haben, bis sie den einzigen Paß, den Hindukush, gefunden haben?

      Was ist über ihre Logistik bekannt? Welche Voraussetzungen für logistische Überlegungen könnten es bei den ihre Tiere Weidenden irten in der zentralasiatischen Steppe gegeben haben? Konnte es überhaupt welche geben? Werfen diese Historiker auch einmal einen Blick auf die Landkarte? Selbst wenn wir die Geschichte bis zur „Bevölkerungsexplosion“ bei diesen Nomaden akzeptierten, können wir uns nicht vorstellen, daß sie in der Lage gewesen sein sollten, auf unwägbarem Gelände zielbewußt eine Richtung zu halten. Hätten sie nicht zielbewußt eine Richtung eingehalten, würden wir rund um die zentralasiatische Steppe Nachfahren dieser „Arier“ finden. Bekanntlich ist dies nicht der Fall. Und schauen Nomaden nicht eher nach unten und gerade aus? Richtungsorientierung auf unbekanntem und in weitem unwägbarem Gelände aber setzt Kenntnisse über die Bewegung der Himmelskörper voraus. Wann haben Nomaden Zeit, viele Generationen lang Astronomie zu betreiben?

      Und was hat Helmuth von Glasenapp uns zu berichten gewußt? Auf Seite 32 unter der Überschrift „Die Vedische Periode“? „Die Arier, welche im 2. Jahrtausend v. Chr. über die Gebirgsstraße des Nordwestens in das Stromgebiet des lndus einwanderten und in ständigem Kampfe mit den Vorbewohnern sich den Nordwestzipfel Indiens unterwarfen, waren ein jugendfrisches Volk von Hirtenkriegern, die zwar schon etwas Ackerbau trieben, denen jedoch der Städtebau und ein höheres Kunstschaffen noch fremd war.

      Statt zumindest einige der vielen offensichtlichen Fragen zu stellen, beschreiben „die Glasenapps“, wie unterschiedlich die beiden Rassen, „Arier“ und „Draviden“ ausgesehen haben. Wie gesagt, die „Arier“ sollen groß, stark, hellhäutig, hellhaarig, blau– bzw. grauäugig gewesen sein, die „Draviden“ kleinwüchsig, dunkelhäutig und dunkeläugig. Kann es wirklich an dieser äußeren Erscheinung gelegen haben, daß die „Draviden“ den „arischen“ Eroberern unterlegen gewesen sein sollen? Trotz einer großen Überzahl an Menschen „dravidischer Rasse“? Liegt nicht die Frage der zahlenmäßigen Größenverhältnisse näher als das äußere Aussehen der beiden vermeintlichen „Rassen“? Und wie können die „modernen Wissenschaftler“ überhaupt feststellen, wie das äußere Aussehen der beiden Menschengruppen vor 3500 Jahren gewesen sein soll? Gibt es ein nachvollziehbares Verfahren dafür? Kann es ein nachvollziehbares Verfahren geben?

      Es ist unübersehbar, daß die Erfinder der beiden unterschiedlichen Rassen und deren Nachfahren nicht nur mit den „Ariern“ sympathisieren, sondern sie auch bewundern und sich mit ihnen identifizieren, d. h. auch mit den einzelnen dieser ihnen zugeschriebenen äußeren Merkmale. Diese Merkmale werden positiv bewertet und die positive Bewertung wird verinnerlicht. Anders ausgedrückt, projizieren die Erfinder der „zwei Rassen Theorie in Indien“ eigentlich ihr eigenes Ebenbild auf die angeblich überlegene Rasse und entwickeln mit ihr ein gemeinsames „Wir–Gefühl“ gegenüber den anderen, wer diese anderen auch sein mögen. Es sind eben „die Anderen“. Diese sind auf jeden Fall nicht groß, stark, hellhäutig, hellhaarig, blau– bzw. grauäugig. Und was nicht sein darf, ist auch nicht.

      Nach der Herstellung des „Wir–Gefühls“ verselbstständigen sich die einzelnen äußerlich wahrnehmbaren Merkmale. Wir müssen uns nicht an die eindrucksvolle Begegnung von Hitler und Mussolini in der Inszenierung „Der große Diktator“ von Charles Chaplin erinnern, um die wuchtige Macht des verinnerlichten Wertes von groß = Größe zu verstehen. Die beiden Diktatoren sitzen bekanntlich auf Drehstühlen und jeder versucht beim Sprechen immer höher zu sitzen als der andere. Charles Chaplin muß zu diesem drastischen Stilmittel greifen, um die „Ich–Schwäche“ der beiden Diktatoren zu verdeutlichen. Wir haben das Glück der Spätgeborenen. Wir können auf die etwas klein Geratenen, wie beispielsweise die deutschen Politiker Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt, Heiner Geißler oder Gerhard Schröder hinweisen, die stets auch von den Pressephotographen aus der Froschperspektive aufgenommen werden. Wir wollen nicht auch noch der Frage nachgehen, wie die Pressephotographen verinnerlicht haben, was sich gehört und was nicht. Politiker in herausragender Position müssen auch in der Länge herausragen. Sollte es einmal anders sein, warum sich nicht der Froschperspektive bedienen?

      Wir belassen es bei dem Hinweis, daß jedes „Wir–Gefühl“ tatsächliche oder vermeintliche positive Eigenschaften voraussetzt, welche „die Anderen“ selbstverständlich nicht besitzen. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob es nun Wissenschaftler, Publizisten oder Journalisten sind. Ob sie so etwas schreiben wie, ‚im Kontext der frühen indischen Geschichte es daher geboten erscheint, in der deutschen Sprache von „Aryas“ zu sprechen, um diese frühgeschichtlichen Sprachgruppen Nordwestindiens von dem neuzeitlichen, ideologischen Konstrukt der „Arier“ als einer mythischen Urrasse der Indo–Europäer deutlicher als bisher zu unterscheiden‘ oder auch nicht. Denn die zugeschriebenen äußerlichen Eigenschaften und deren Wertungen haben eine eigene eingebildete und verinnerlichte Erhabenheit und Überlegenheit gegenüber den anderen in Kopf und Bauch abgebildet.

      Eigentlich sind ja die „Kleinwüchsigen“ nicht klein, sondern „unberechenbar und falsch“; dunkelhäutige Menschen sind eigentlich „finstere Gesellen“, nicht so offen wie hellhäutige. Und wenn sie auch noch eine dunkle Augenfarbe haben, wer möchte schon so einem begegnen, vom „Hereinholen“ in die „Wir–Gruppe“ ganz zu schweigen. Staatsbürgerschaft hin, Staatsbürgerschaft her. Eine Kultur, die sich seit Jahrhunderten dieses Bewußtsein der Überlegenheit der blond-blauäugig-weißen Menschen eingeprägt hat, muß auch so genannt werden, und wir müssen nicht länger hinnehmen, daß uns „Kulturwissenschaftler“ durch ihre Erfindung immer neuer Namen für diese Kultur verwirren. Etwas ist da noch hinzu gekommen, was die vermeintlichen „Arier“ nicht hatten: das Christsein. Sind die „Indoeuropäer“ nicht eben die christlichen Nachkommen der „Arier“, Produkte der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur, deshalb auch zivilisierter als die „indischen Arier“? So ein bißchen auch überlegener?

      Und eine Überlegenheit ist keine Überlegenheit, wenn sie nicht immerfort unter Beweis gestellt wird. Nicht anders verhält es sich


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