Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer
Schule ist so ein Kapitel für sich. Natürlich hatte Tobias Schwierigkeiten still zu sitzen und dem Unterricht zu folgen. Jede Woche wurde ich von seiner Lehrerin zum Gespräch gebeten. Es gelang ihr nicht, Tobias zur Ruhe zu bringen. Sie hatte schon einiges ausprobiert, aber nichts half. Frau K. stellte Regeln in der Klasse auf für das Verhalten der Kinder im Unterricht. Alle hielten sich an diese Regeln. Nur mein Tobias nicht. Er war nicht zu bändigen. Ständig stand er mitten im Unterricht auf und rannte herum. Er störte seine Mitschüler beim Lernen, indem er sie ärgerte. Fast täglich bekam Tobias Strafarbeiten auf oder musste nachsitzen.“
„Wie schlug sich das in den Schulnoten nieder?“, möchte ich von Helga erfahren.
„Fragen Sie besser nicht. Die Noten waren eine Katastrophe. Rechnen, Sachkunde und Sport waren noch ganz in Ordnung. Schreiben und Lesen hingegen waren eine Qual für Tobias. Es wollte ihm nicht gelingen. Wir alle waren verzweifelt. Nach einiger Zeit schlug seine Lehrerin vor, Tobias auf Legasthenie testen zu lassen. Der Test fiel, wie zu erwarten war, positiv aus. Tobias wurde als hochgradiger Legastheniker erkannt. Von da an bekam er eine spezielle Förderung. So konnte Tobias zumindest die Schulzeit mit einem ganz passablen Hauptschulabschluss beenden.“
„Ich kann mir vorstellen, Helga, dass es eine sehr anstrengende Zeit für Sie gewesen sein muss.“
„Das stimmt. Nonstop war ich mit Tobias beschäftigt. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Dörte gegenüber. Meine Große musste immer zurückstecken. Tobias hat all meine Kraft und meine ständige Aufmerksamkeit gebraucht. Ich habe alles gegeben. Und jetzt das! Wieso bestraft mich Tobias so sehr? Ich verstehe es nicht. Ich bin verzweifelt. Zwischendurch habe ich sogar darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden, weil ich diesen Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Doch dann dachte ich an Dörte, mein Enkelkind und an Dieter. So etwas könnte ich ihnen nicht antun. Ich liebe sie zu sehr. Ich möchte nicht, dass sie wie ich diese Höllenqualen erleiden müssen.“
„Tobias hat sozusagen Ihre volle Aufmerksamkeit gefordert?“
„So ist es. Ich bin froh, dass unsere Dörte ein so ruhiges Kind war. Sie war sehr genügsam. Wenn die Kleine ein Buch in den Fingern hatte, war sie glücklich. Dörte hatte selten das Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Sie wollte auch keine Kontakte zu anderen Kindern haben. In der Schule kam sie ganz gut zurecht, verbrachte die Pausenzeit aber immer alleine. Während andere Kinder auf dem Pausenhof herumtobten und spielten, saß sie auf einem Mäuerchen mit einem Buch in der Hand und las. Sie war froh, wenn ihre Mitschüler sie in Ruhe ließen. Wenn ich so zurückblicke, brauchte Dörte überhaupt viel Ruhe. Auch brauchte sie für alles sehr viel Zeit. Bis heute macht sie alles mit Bedacht.“
„Helga, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken als Ihre Kinder klein waren, würden Sie sagen, dass Dörte und Tobias auch in ihrer Entwicklung unterschiedlich waren?“
„Auf jeden Fall! Unsere Dörte ist, wie ich bereits erwähnte, ruhig und in allem eher langsam. Als Kind brauchte sie viel Schlaf. Bis zum Ende der Grundschulzeit hielt sie noch regelmäßig Mittagsschlaf. Sie begann auch, erst weit nach ihrem zweiten Geburtstag zu laufen. Trocken werden dauerte bei ihr auch sehr lange. Mit neun Jahren kam es immer noch vor, dass Dörte vor allem nachts einnässte. Tobias hingegen ist ganz anders. Er wollte nie schlafen. Er brauchte immer Action. Mit dreizehn Monaten konnte Tobias schon laufen. Wenn ich es so recht bedenke, hat Tobias seine große Schwester dazu animiert, auch mit dem Laufen zu beginnen.
Tobias kletterte auf alles hinauf. Ich erinnere mich, wie er eine Gelegenheit nutzte, um auf das Dach unseres dreistöckigen Wohnhauses zu steigen. Handwerker verrichteten einige Reparaturarbeiten an der Dachrinne. Sie hatten eine lange Leiter aufgestellt, die bis zum Dach hinauf reichte. Während einer Arbeitspause der Männer, kletterte Tobias von allen unbemerkt die Leiter hinauf und von da aus über das Dach des Hauses bis hin zum Schornstein. Dort angelangt, balancierte er über den Dachfirst hin und her. Weil keiner von Tobias´ Kletteraktion etwas mitbekommen hatte, er aber Aufmerksamkeit wollte, rief er von oben herunter: ´Fangt mich doch, wenn ihr mich kriegt´. Da erst bemerkten die Männer ihn. Sie riefen mich nach draußen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich wusste, ich durfte jetzt nicht in Panik geraten. Ich sprach so ruhig, wie es mir in diesem Moment nur möglich war mit ihm, während einer der Handwerker aufs Dach stieg, um ihn sicher herunterzuholen. Das war gar nicht so einfach, denn Tobias spielte tatsächlich Fangen mit seinem Retter. Nur unsere größte Überredungskunst konnte ihn dazu bringen, mit seinem Retter wieder zu uns herunterzukommen. Zum Glück blieben alle unversehrt bei dieser Aktion.“
„Wie alt war Tobias zu dem Zeitpunkt, Helga?“
„Er war noch nicht in der Schule. Also muss er ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.“
„Hat Dörte von der Kletterpartie ihres kleinen Bruders etwas mitbekommen?“
„Nein, Dörte schlief. Sie hielt ihren Mittagsschlaf, wie immer um diese Zeit.“
„Hielt Tobias Sie häufiger derart auf Trab, Helga?“
„Ja, leider. Immer wieder vollführte Tobias solch gefährliche Aktionen. Meistens gingen sie glimpflich aus. Wie durch ein Wunder passierte ihm selten was.“
„Tobias muss einen guten Schutzengel haben, der auf ihn aufpasst.“
„Das glaube ich auch. Tobias ist schon so oft von irgendwo heruntergefallen. Es ist ihm, Gott sei Dank, nie so richtig Schlimmes passiert. Er hatte mal ein Bein gebrochen und einmal seinen linken Arm. Das waren seine heftigsten Verletzungen. Meistens kam er mit einer Beule oder einer kleinen Platzwunde davon.“
„Ließen Tobias´ Eskapaden mit heranwachsendem Alter nach, Helga?“
„Ach was. Es änderte sich gar nichts. Lediglich die Möglichkeiten um Blödsinn zu machen, wurden anders.“
„Welche Gelegenheiten boten sich Tobias denn später? Wurde er mit der Zeit nicht langsam umsichtiger in seinem Handeln?“
„Ich wünschte, dass es so gewesen wäre. Wissen Sie, es wurde immer anstrengender für mich, Tobias´ Eskapaden auch gesellschaftlich zu rechtfertigen. Da war ich sehr froh, als der Sohn einer Freundin Tobias fragte, ob er nicht auch der Landjugend beitreten wolle. Tobias war sofort begeistert von der Idee. Ich selber war von dem Gedanken auch ganz angetan. Die örtliche Landjugend genießt bei uns einen guten Ruf, müssen Sie wissen. Ich dachte, Tobias findet dort nette Freunde, die vernünftigen Aktivitäten nachgehen. Deshalb habe ich guten Glaubens zugestimmt, als Tobias dort beitrat. Alle Mütter, mit denen ich zuvor gesprochen hatte, waren derselben Auffassung wie ich. Wir alle dachten ganz unbedarft, dass unsere Kinder dort gut aufgehoben seien und sich wirklich sinnvollen Dingen widmeten. Wie naiv und gutgläubig wir alle waren, herrje!“
Helga ist zerknirscht. Sie schüttelt ihren Kopf, um ihrem Unverständnis Ausdruck zu verleihen.
„Helga, für mich hört sich das so an, als wäre das genaue Gegenteil der Fall gewesen.“
„So verhielt es sich auch. Es war nämlich so: Die Mitglieder der Landjugend sind zwischen dreizehn und etwa zwanzig Jahre alt. Was wir Mütter nicht wussten: Die Älteren von ihnen brachten regelmäßig Alkohol und Zigaretten mit zu den Vereinstreffen. Weil sie eine eingeschworene Gemeinschaft waren, hielten alle dicht - und natürlich machten auch die Jüngeren mit.“
„Sie wollen sagen, dass Tobias schon mit dreizehn Jahren Alkohol und Zigaretten konsumierte? Wie war das für Sie, Helga, als Sie davon erfuhren?“
„Ich war absolut fertig mit den Nerven. Wer weiß, was da sonst noch alles geraucht wurde. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.“
„Nun ja, manchmal kann es auch Teil einer Mutprobe oder eines Aufnahmerituals sein, eine Zigarette zu rauchen. Haben Sie daran schon mal gedacht?“, gebe ich zu bedenken.
„Ja, ich weiß. Das sagte Dieter auch, als ich ihm davon erzählte. Aber es war ja nicht nur einmal. Es kam mit der Zeit immer häufiger vor, dass Tobias nachts betrunken und nach Zigarettenqualm stinkend nach Hause kam.“
„Haben Sie mit Tobias über Ihre Sorge gesprochen?“
„Selbstverständlich!“