Rabenkinder. Birgit Henriette Lutherer

Rabenkinder - Birgit Henriette Lutherer


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ich sei überängstlich und hinterwäldlerisch. Außerdem sei ich diejenige gewesen, die seinen Beitritt zur Landjugend so sehr befürwortet habe. Jetzt solle ich halt sehen, wie ich damit zurechtkäme. Dann ging er einfach weg und ließ mich stehen.“

      „Wie alt war Tobias da?“

      „Sechzehn.“

      „Ging er zu diesem Zeitpunkt noch zur Schule?“

      „Nein. Er hatte eine Lehre als Landschaftsgärtner begonnen. Tobias fühlte sich richtig erwachsen. Er ließ sich von mir nichts mehr sagen. Er kam, wann er wollte, er ging, wann er wollte und nicht selten brachte er nach zehn Uhr abends noch seine Kumpels mit nach Hause. Die blieben dann oft bis weit nach Mitternacht bei uns und machten Krach. Irgendwann tauchte auch die erste Freundin bei uns auf und blieb gleich über Nacht.“

      „Versuchten Sie denn nicht dem turbulenten Treiben Einhalt zu gebieten?“

      „Ja, natürlich. Doch es gelang nicht. Tobias hatte keinerlei Einsicht oder Unrechtsbewusstsein. Schließlich sagte ich mir, dass es vielleicht auch besser sei, wenn Tobias sich bei uns austobt. Wer weiß, wie er draußen unangenehm auffallen würde.“

      „Wie lange lebten Sie so?“

      „Eine gefühlte Ewigkeit. Ich hatte es irgendwann geschafft, mich mit dieser Situation zu arrangieren. Ich sah viele Freunde von Tobias kommen und gehen. Genauso verhielt es sich auch mit seinen Freundinnen. Er hat nie eine länger als drei Monate gehabt. Dann kam schon die nächste. Es war wirklich ein Kommen und Gehen. Ich hatte nur dann Ruhe in unseren eigenen vier Wänden, wenn Tobias mit den Kumpels von der Landjugend oder mit seinen Arbeitskollegen unterwegs war.“

      „Hatten Sie und Dieter vielleicht auch einmal über die Möglichkeit nachgedacht, dass Tobias in eine eigene Wohnung ziehen könnte?“

      „Auf gar keinen Fall wäre das eine Option für uns gewesen. Wir setzten doch nicht unser Kind vor die Türe! Das tut man nicht!“

      Helga ist bei diesem Gedanken wieder sichtlich empört. Erneut schaut sie sich prüfend im Café um. Ihr ist gerade bewusst geworden, wie deutlich und enthusiastisch sie erzählt hat.

      „Helga, Tobias hat bei Ihnen ein komfortables Leben führen können. So wie ich Sie verstanden habe, haben Sie alles für ihn getan. Sie haben seine Wäsche gewaschen, Sie haben für ihn das Essen gekocht und dergleichen mehr. Tobias hätte so gesehen keinen Anlass gehabt, Sie zu verlassen und den Kontakt zu Ihnen so rigoros abzubrechen.“

      „Das stimmt. Ich hätte auch ein wenig Dankbarkeit erwartet. Zumindest ein wenig. Aber das jetzt, das habe ich nicht verdient. Bestimmt nicht.“

      „Wie ist es denn zu diesem radikalen Schnitt gekommen?“

      „Ach, so genau kann ich Ihnen das gar nicht sagen. Er hatte dieses Mädchen kennengelernt. Sie war total anders als die, die er sonst so mitbrachte. Carina, so heißt sie, ist eher unscheinbar. Eine graue Maus. Aber sonst nett. Wir hatten nie so einen Draht zueinander. Nachdem Tobias erstaunliche elf Monate mit Carina zusammen war, verkündete er uns eines Tages, dass er mit ihr weggehen würde. Tobias war mittlerweile dreiundzwanzig Jahre alt. Er sagte uns, sie würden nach Österreich gehen, er habe dort eine Stellung als Forstwirt angenommen. Eine Woche später klingelten seine Kumpels bei uns. Sie waren mit einem Transporter angerückt. Tobias empfing sie lachend und ging mit ihnen in sein Zimmer. Einer nach dem anderen kamen sie kurze Zeit später mit einem Möbelstück oder Umzugskarton in der Hand wieder heraus. Sie verstauten alles in dem Transporter.“

      Helga schluckt, um ihre Tränen zu unterdrücken, als sie mir das erzählt.

      „Hat Tobias Ihnen den Zeitpunkt seines Auszugs aus Ihrem Haus nicht mitgeteilt?“

      „Nein. Tobias klang so, als würde er seinen Plan in wenigen Monaten wahr machen. Dass es so bald sein würde, davon hatten wir keine Ahnung. Er hat es nicht einmal angedeutet. Jetzt stand ich da, vollkommen perplex und handlungsunfähig. Innerhalb kürzester Zeit war der Spuk auch schon vorbei.“

      „Hat Tobias sich von Ihnen verabschiedet?“

      „Ich weiß noch genau, ich stand wie versteinert im Hausflur. Tobias ging an mir vorbei. Im Vorübergehen sagte er zu mir: ´Es ist besser so, Mama´. Dann gab er mir einen Kuss auf meine linke Wange und war weg. Seitdem ist es vorbei.“

      Helga sitzt da, ringt wieder mit den Tränen und versucht, die Kontrolle über ihre Gefühle zu behalten. Ich spüre, wie groß der Verlustschmerz in ihr ist. Sie ist gekränkt und zutiefst verletzt.

      Nach einer Weile richtet sie sich auf, seufzt deutlich hörbar und sagt: „Vielleicht ist es wirklich besser so. Wer weiß, was noch geworden wäre, wenn er noch länger bei uns geblieben wäre. So haben Dieter und ich unser Leben zurück und ich brauche nicht mehr so sehr auf der Hut zu sein. Ich meine, es war schon sehr anstrengend gewesen, ständig Rechtfertigungen zu finden, wenn Tobias mal wieder nicht so war, wie unser Umfeld es gutheißt. Und außerdem habe ich ja noch Dörte und ihre Familie. Sie machen mir viel Freude. Wenn mein kleiner Sonnenschein zu Oma zu Besuch kommt, geht es mir gut. Meine kleine Enkeltochter Mia ist mein Ein und Alles. Manchmal, wenn ich sie so anschaue, entdecke ich auch ein bisschen von Tobias an ihr. Sie sieht auch so aus, wie ein kleines Engelchen mit rosa Pausbäckchen.“

      Helga lächelt sanft, als sie das sagt. Der Gedanke an Mia scheint ihr Ruhe zu geben und versöhnlich zu sein. Helga hat für sich einen Weg gefunden, mit dieser, für sie, unerträglichen Situation umzugehen.

      Abschließend möchte ich von Helga erfahren, ob sie heute in der Erziehung etwas anders machen würde.

      „Helga, wenn Sie noch einmal zurückblicken auf die Zeit als Tobias klein war, würden Sie in einigen Dingen anders verfahren? Würden Sie etwas anders machen wollen? Bereuen Sie vielleicht irgendetwas?“

      „Ach, wissen Sie, Frau Lutherer, darüber habe ich mir schon einige Male Gedanken gemacht. Ich glaube, ich würde es heute genauso machen. Ich bereue nichts. Ich habe mein Bestes gegeben. Tobias ist halt, wie er ist. Da kann man nichts machen.

      Eine sehr gute Freundin versuchte mich einmal zu trösten, als ich ziemlich frustriert war wegen Tobias. Sie sagte zu mir: ´Sieh es mal so, du hast alles getan. Er hat leider nichts von dir angenommen. In jeder Kiste Äpfel ist halt doch immer ein fauler Apfel dabei, so sagt man doch. Aber aus Tobias ist ja doch noch was geworden´. Als meine Freundin mir das sagte, war ich erst sauer über ihre freche, niederschmetternde Aussage. Doch leider muss ich meiner Freundin Recht geben. Also, um noch einmal auf ihre Frage zurückzukommen, Frau Lutherer: Ich würde nichts ändern und heute alles wieder so machen. Eigentlich müsste alles gut sein, wäre da nicht dieser nagende, furchtbare Schmerz in mir. Tobias hat mir mein Herz gebrochen. Es ist, als hätte er es herausgerissen. Daran wird sich wahrscheinlich nie etwas ändern. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Das mag vielleicht stimmen. Aber diese verdammten Narben, die entstehen, schmerzen gewaltig.“

      Helga ist in ihrer Gefühlswelt hin- und hergerissen. Ihr Gefühlsleben fährt permanent Achterbahn. Haltlos versucht sie, die Kontrolle zu bewahren.

      Kann das, einer so sehr verletzten Mutter, auf Dauer gelingen?

      ADHS, ADS, HSS, ASS

       Helga beschreibt ihren Sohn Tobias als sehr lebhaftes Kind.

       Tobias gönnte sich, wie sie berichtet, keine Ruhephasen. Ständig war er als Kind in Aktion. Ohne Rast, ohne Ruhephasen verbrachte er von klein auf seinen Tag.

       Auch spricht sie davon, dass Tobias Lernschwierigkeiten in der Schule hatte. Er wurde positiv auf Legasthenie getestet.

       Erteilte Aufgaben erledigte er widerwillig mit Verzögerungstaktik oder er vergaß sie komplett.

       Tobias ältere Schwester Dörte hingegen ist da ganz anders. Sie ist in sich gekehrt, möchte keine Kontakte zu Mitschülern. Sie liest gerne und ist sehr sprachbegabt. Dörte braucht viel Ruhe und für alles


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