Jane Eyre. Шарлотта Бронте
zu machen. Dann begann sie zu singen; das Lied lautete:
»Als wir durch Wald und Flur streiften.
Vor langer, langer Zeit.«
Wie oft hatte ich dies Lied schon gehört, und immer mit dem größten Entzücken; denn Bessie hatte eine süße Stimme – wenigstens nach meinem Geschmack. Aber jetzt, obgleich ihre Stimme noch immer lieblich klang, lag für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit in dieser Melodie. Zuweilen, wenn ihre Arbeit sie ganz in Anspruch nahm, sang sie den Refrain sehr leise, sehr langsam: »Vor langer, langer Zeit«; dann klang es wie die Schlusskadenz eines Grabliedes. Endlich begann sie eine andere Ballade zu singen, diesmal eine wirklich traurige.
Mein Körper ist müd und wund ist mein Fuß,
Weit ist der Weg, den ich wandern muss.
Bald wird es Nacht, und den Weg ich nicht find’.
Den ich wandern muss, armes Waisenkind!
Weshalb sandten sie mich so weit, so weit,
Durch Feld und Wald, auf die Berg’, wo es schneit?
Die Menschen sind hart! Doch Engel so lind.
Bewachen mich armes Waisenkind.
Die Sterne, sie scheinen herab so klar.
Die Luft ist mild! Es ist doch wahr: Gott ist barmherzig, er steuert dem Wind, Dass er nicht erfasse das Waisenkind. Und wenn ich nun strauchle am Waldesrand Oder ins Meer versink, wo mich führt keine Hand’, So weiß ich doch, dass den Vater ich find’, Er nimmt an sein Herz das Waisenkind! Das ist meine Hoffnung, die Kraft mir gibt. Dass Gott da droben sein Kind doch liebt. Bei ihm dort oben die Heimat ich find’. Er liebt auch das arme Waisenkind!
»Kommen Sie, Miss Jane, weinen Sie nicht«, sagte Bessie, als sie zu Ende war. Ebensogut hätte sie dem Feuer sagen können »brenne nicht!« aber wie hätte sie denn auch eine Ahnung von dem herzzerreißenden Schmerz haben können, dessen Beute ich war? – Im Laufe des Morgens kam Mr. Lloyd wieder.
»Wie? Schon aufgestanden?« rief er, als er in die Kinderstube trat. »Nun, Wärterin, wie geht es ihr denn eigentlich?«
Bessie entgegnete, dass es mir außerordentlich gut gehe.
»Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miss Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«
»Ja, mein Herr, Jane Eyre!«
»Nun, Sie haben geweint, Miss Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«
»Nein, Herr.«
»Ah, ich vermute, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte«, warf Bessie hier ein.
»O nein, gewiss nicht, für solche Albernheit ist sie denn doch zu alt.«
Das dachte ich auch; und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«
»Schämen Sie sich, Miss!« rief Bessie.
Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm; er heftete seine Augen fest auf mich. Diese Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, dass ich sie jetzt sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er: »Was hat Sie gestern krank gemacht?«
»Sie ist gefallen«, sagte Bessie wieder einfallend.
»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein?«
»Jemand hat mich zu Boden geschlagen«, lautete die derbe Erklärung, welche der Schmerz gekränkten Stolzes mir wiederum entriss, »aber das hat mich nicht krank gemacht«, fügte ich hinzu, während Mr. Lloyd bedächtig eine Prise Tabak nahm.
Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen; er wusste, was es bedeutete: »Das gilt Ihnen, Wärterin«, sagte er, »Sie können hinunter gehen; ich werde Miss Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«
Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten eine Sache war, auf welche in Gateshead-Hall strenge gehalten wurde.
»Der Fall hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es denn?« fragte Mr. Lloyd weiter, nachdem Bessie gegangen war.
»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«
Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was! Sie sind am Ende doch nichts anderes, als ein kleines Kind! Sie fürchten sich vor Geistern?«
»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort auf der Bahre. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend hinein, wenn es nicht dringend notwendig ist; und es war so furchtbar grausam, mich dort allein, ohne Licht, einzuschließen – so grausam, dass ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«
»Unsinn! Und macht das Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«
»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem, ich bin unglücklich, sehr unglücklich um anderer Dinge willen.«
»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«
Wie sehr wünschte ich, offen und ehrlich auf diese Frage zu antworten! Wie schwer war es aber, Worte für eine solche Antwort zu finden! Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihr Empfinden nicht zergliedern; und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, dass ich diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen lassen könnte, gelang es mir nach einer unruhigen Pause, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.
»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester.«
»Aber Sie haben eine gütige Tante und liebe Vettern und Cousinen.«
Wiederum hielt ich inne, dann rief ich kindisch aus:
»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen und meine Tante hat mich im roten Zimmer eingesperrt.«
Zum zweiten Mal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.
»Finden Sie denn nicht, dass Gateshead-Hall ein wunderschönes Haus