Das purpurne Hemdchen. Sara-Maria Lukas

Das purpurne Hemdchen - Sara-Maria Lukas


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sie zum ersten Mal das Meer sieht.

      Der Taxistand vor dem Hauptbahnhof ist nicht zu verfehlen. Sie wartet unter dem Dach, bis ein Wagen mit einer Fahrerin frei ist, steigt ein und nennt die Adresse des billigen Jugendhotels, das Sina übers Internet gefunden hat. Es ist nicht weit vom Bahnhof entfernt, doch zur Rushhour in Hamburg kommen selbst Taxis kaum voran. Staunend, und auch ein wenig eingeschüchtert, betrachtet sie durch die nasse Fensterscheibe das Gewusel von Autos und Menschen im Schein der Laternen. Als die Fahrerin endlich vor dem grauen mehrstöckigen Gebäude hält, zeigt die goldene Armbanduhr ihrer Mutter fast zwanzig Uhr an. Das ist zwar nicht ganz korrekt, denn die Uhr geht seit Jahren vor, aber das ist ihr egal. Sie trägt sie an diesem Tag sowieso zum letzten Mal.

      Unter Aufbietung aller Kräfte betritt sie das Gebäude durch die schwere Schwingtür, die sich anscheinend weigern will, verschrammte, altmodische Rollkoffer mit hineinzulassen. Zum Glück ist die Empfangshalle leer und niemand beobachtet ihren ungelenken Kampf gegen die Tür. Die Kofferrollen scheppern unangenehm laut auf dem Fliesenboden, und Sina atmet erleichtert auf, als sie endlich vor dem Tresen steht und der Lärm aufhört, aber die junge Frau dahinter scheint ihn gar nicht bemerkt zu haben. Ihre Hände klappern ohne Unterbrechung auf der Computertastatur herum. Aus einem Gang rechts von ihr schlendern vier in Jeans und legere Jacken gekleidete Typen lachend und plaudernd heran. Unwillkürlich zieht Sina die Schultern hoch, doch die Männer gehen vorbei, ohne sie zu beachten. Entschlossen richtet sie sich kerzengerade auf. Neuanfang, alte Mimosensumpfkuh! Schon vergessen?

      „Hallo“, grüßt sie, als die Rezeptionistin den Kopf hebt.

      „Hi! Was kann ich für dich tun?“

      „Sina Augustin, ich habe reserviert.“

      „Moment …“ Ihre Finger mit den langen, schwarz lackierten Nägeln rasen erneut über die Computertastatur, während sie mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm sieht. In Sinas Kehle bildet sich ein Kloß. Wenn es nun mit der Reservierung per Mail nicht geklappt hat, was macht …

      „Ah ja, hier habe ich dich. Zwei Nächte ohne Frühstück, richtig?“

      Sina nickt erleichtert. „Ja.“

      Die Rezeptionistin mustert sie unverhohlen. Mit ihren streichholzkurzen pechschwarzen Haaren, den schwarz geschminkten Augen und dem blutroten Lippenstift wirkt sie irgendwie abgefahren. Zuhause hätte sie in dem Outfit nie einen Job in einem der Kurhotels bekommen, denkt Sina. Aber dann lächelt die junge Frau offen und ganz normal. „Kleiner Wochenendtrip?“

      „Ähm … nein. Ich ziehe hierher.“

      Die schwarzen Augenbrauen zucken hoch. „Sag nicht, du willst innerhalb von zwei Tagen eine Wohnung in Hamburg finden.“

      Sina schüttelt den Kopf. „Ich habe schon eine. Ich bekomme morgen den Schlüssel und am Montag werden die Möbel geliefert.“

      „Oh, alles klar. Dann herzlich willkommen. Deine Zimmernummer ist die 317, der Aufzug ist da vorn rechts. WLAN kostet extra, Getränke gibt’s hier links im Automaten. Wenn du was brauchst, sprich mich einfach an“, rattert sie so schnell herunter, dass Sina kaum folgen kann, und hält ihr die Schlüsselkarte hin.

      „Danke.“ Sie nimmt die kleine Plastikkarte und dreht sich Richtung Fahrstuhl. Fünf Minuten später steht sie in ihrem Hotelzimmer, lässt den Koffergriff los und sich rücklings auf die Matratze fallen. Geschafft.

      Sina sitzt senkrecht im Bett und starrt auf die Leuchtanzeige ihres Handys. Es ist zwei Uhr. Ihr Blick irrt im Raum herum. Das Licht ist doch an, wieso sind die scheiß Stimmen trotzdem noch da?

      „O Mann! Verpisst euch!“, stößt sie verzweifelt hervor und presst die Fäuste gegen die Schläfen. Es hilft nichts. Erneutes gedämpftes Männerlachen, ganz eindeutig. Ihre Lungenflügel ziehen sich schmerzhaft zusammen, ihr Herz dröhnt so heftig, dass der Brustkorb hart vibriert und sie nicht klar denken kann. Angespannt lauscht sie, fluchtbereit, kurz vor dem Aufspringen. Jetzt wird es leiser. Ja, tatsächlich, es entfernt sich. Eine Tür klappt. Stille. Ihr Verstand setzt ein, und sie versteht, was passiert ist. Sie ist im Hotel, und Männer gingen gerade lachend den Flur entlang. Es waren Gäste, normale Hotelgäste. Niemand ist in ihrem Zimmer. Natürlich ist niemand im Zimmer. Es hörte sich doch auch ganz anders an als sonst. Wieso ist ihr das nicht gleich aufgefallen?

      Zitternd atmet sie aus und reibt die Haut über und unter ihren Brüsten, wie sie es immer nach den schlimmen Träumen tut, um den fiesen Druck zwischen den Rippen loszuwerden. Sachte und langsam atmen, damit sich die Verkrampfung löst, vorsichtig ein und ganz bewusst wieder aus, bis der Schmerz sich auflöst.

      Als die Panikattacke endlich überwunden ist, wischt sie sich mit der flachen Hand über die klebrig verschwitzte Stirn, rappelt sich auf und tapst in das kleine Bad. Nachdem sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hat, geht es ihr besser. Erleichtert legt sie sich wieder hin, starrt eine Weile an die Zimmerdecke und kann sich nicht davon abhalten, weiterhin misstrauisch zu lauschen. Auf der Straße fahren Autos. Klar. In einer so großen Stadt ist immer was los. Im Hotel bleibt es aber zum Glück still und irgendwann fallen ihr die Augenlider zu.

      Der Wecker ihres Smartphones bimmelt um sieben. Sina schlägt die Augen auf und registriert sofort das Geprassel an den Fensterscheiben. Regen. Pah! Das blöde Wetter wird es nicht schaffen, ihr die Laune zu verderben. Zufrieden streckt sie sich unter der warmen, kuscheligen Bettdecke. Es gab im Laufe der restlichen Nacht keine fiesen Träume mehr. Das ist doch ein toller Start in ihr neues Leben. Yeah!

      Voller Tatendrang springt sie aus dem Bett.

      Während sie auf dem Klo hockt, betet sie sich selbst die To-do-Liste herunter, die sie längst auswendig kennt.

      Um neun ist der Termin für die Schlüsselübergabe in der Wohnung, um zehn der beim Friseur. Das ist locker zu schaffen, denn laut dem Handy-Navi muss sie von ihrem neuen Zuhause bis zu diesem Haarstudio nur ein paar Minuten zu Fuß gehen. Danach will sie einen Laptop und peppige Klamotten für ihr nigelnagelneues Outfit kaufen. Vielleicht geht sie am Mittag in ein schickes Restaurant essen. Nein, sie wird sich doch lieber bei einem Imbiss etwas zwischen die Lippen schieben. Sie darf nicht übermütig werden, bevor sie Arbeit hat. Schließlich muss sie einige teure Anschaffungen tätigen, und ein Notgroschen sollte auf dem geerbten Sparbuch übrigbleiben, zumindest bis sie Geld verdient oder das Haus verkauft hat. Ach ja, auf keinen Fall vergessen, eine Tageszeitung zu besorgen. Bestimmt stehen auch in einer so großen Stadt nicht alle Jobs im Internet.

      Nach dem Duschen flechtet sie ihre inzwischen hüftlangen braunen Haare, wie jeden Morgen in den letzten Jahren, zu einem dicken Zopf.

      „Nur noch dieses eine Mal“, verspricht sie ihrem Spiegelbild. „Heute gibt es wieder eine richtige Frisur. Keine Zweifel mehr, Frau Augustin. Du bist stark und weißt, was du willst.“

      Sie grinst und salutiert zackig. „Jawoll, Chefin.“

      Erleichtert, dass alles so gut geklappt hat, verlässt Sina ihr neues Zuhause, nachdem sie den Mietvertrag unterschrieben hat. Den Wohnungsschlüssel so fest in der Hand haltend, als könnte er wegwehen, läuft sie die Straße entlang zu ihrem nächsten Termin. Da ist es schon: Haarstudio Madison.

      Mit heftig klopfendem Herzen starrt Sina durch die großen Schaufenster. Sie schnaubt. Meine Güte! Ein Friseur ist doch kein Zahnarzt! Lächerlich! Entschlossen drückt sie die Glastür auf und betritt den Salon. Oh Mann. Sie hat null Ahnung, wie man sich in so einem Laden benimmt.

      Der Raum ist hoch und hell. Mindestens zehn Kundinnen sitzen auf klobigen Sesseln vor großen Spiegeln an den Wänden, während mehrere Friseurinnen um sie herumwuseln und ihre Arbeit tun. Es ist sehr warm und duftet aufdringlich nach Parfüm und Haarspray. Erleichtert registriert sie, dass alle Mitarbeiter weiblich sind. Sie hat im Zug noch darüber nachgedacht, ob sie es ertragen könnte, wenn ein Mann ihre Haare schneiden würde. Zum Glück eine unnötige Sorge, wie sie jetzt feststellt.

      Sina streift die Kapuze vom Kopf und zieht den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Eine junge Angestellte wird auf sie aufmerksam, läuft hinter den


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