Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad
Tage aus dem Wege schaffen. Und ich Narr ging pardauz in die Falle, die allerdings recht schlau war – dies eine Mal.«
»Fürchten Sie nicht, daß er seinen Coup schon heute oder morgen ausführt?«
»Kaum – er hat offenbar noch nicht alles in Ordnung.«
»Wann erlangen Sie Klarheit über seinen geplanten Coup?«
»Ich habe noch keine Klarheit. Aber mein Spürsinn – meine Ahnung, wenn Sie wollen – für das Richtige hat mich noch nie im Stich gelassen. Und ich sah in seinem absonderlichen Arbeitsraum das, was niemand anderer entdeckte – und bringe es in Zusammenhang mit seiner unerlaubten telegraphischen Tätigkeit.«
Asbjörn Krag schloß nun wieder ermattet die Augen. Der junge Telegrapheningenieur blieb eine Weile stehen und sah ihn an, voll Bewunderung für seine Willenskraft und Energie, die sich sogar in diesem hilflosen Zustand offenbarte. Dann verließ, da er sah, daß der Detektiv wieder schlief, er leise das Zimmer, um seinen Auftrag auszuführen. Vorher trug er der Hauswirtin strenge auf, Krag zu überwachen und niemand anderen als ihn und den Arzt, gleichviel unter welchem Vorwand, zu dem Kranken zu lassen. Bei seinem jetzigen Zustand konnte sein Leben auf dem Spiele stehen. Wenn jemand sich nach seinem Befinden erkundigte, sollte sie sagen, daß Krag mindestens zehn Tage das Bett hüten müsse. Holst machte ihr begreiflich, daß diese Antwort von höchster Wichtigkeit für Krag war, und ging, nachdem er ihr noch eine Telephonnummer gesagt hatte, die sie im Notfall aufrufen konnte, um ihn zu erreichen.
Da die Ordinationsstunde des angesehenen Arztes, den man zu Asbjörn Krag gerufen hatte, schon vorbei war, nahm Holst einen Wagen und suchte den Doktor in seiner Privatwohnung auf. Er schickte seine Karte hinein, auf der er den Anlaß seines ungewöhnlichen Besuches angegeben hatte, und wurde sofort vorgelassen.
»Nun?« fragte der Doktor, nachdem er Holst begrüßt hatte. »Sie haben mir etwas mitzuteilen? Wie steht es mit unserem Patienten?«
»Er ist wieder zu sich gekommen. Aber jetzt schläft er tief.«
»Das ist recht! Hat er etwas Besonderes gesagt – vielleicht phantasiert?«
»Im Gegenteil,« rief Holst. »Ich bin voll Bewunderung für seine phänomenalen Geistesgaben. Er hat hier einen gefährlichen Schurkenstreich durchschaut, wenn nicht noch Schlimmeres.«
»Trotz seinem Zustand?«
»Gerade dadurch – vielleicht.«
»Ja,« sagte der Arzt nachdenklich, »ich habe auch die ganze Zeit den Verdacht gehabt, daß da irgend etwas nicht stimmt. Ein Mann wie Asbjörn Krag ist in einem solchen lebensgefährlichen Raum nicht leicht ohne weiteres so unvorsichtig. Was sagte er selbst darüber?«
Holst überlegte einen Augenblick und sah dann den Arzt mit einem scharfen Blick an.
»Es handelt sich hier um eine sehr ernste Sache, der Krag schon lange auf der Spur ist.«
»Das dachte ich mir.« Und der Arzt blinzelte verständnisvoll.
»Asbjörn Krag hat mir ein Geheimnis anvertraut,« fuhr Holst fort, »ein ernstes Geheimnis.«
»Nun?«
»Und er hat mich gebeten, Ihren Beistand zu erbitten.«
»Er steht Ihnen zu Diensten.«
»Aber bevor ich die Sache näher erkläre, muß ich Ihr Ehrenwort verlangen.«
»Wozu?« unterbrach der Arzt. »Das ist nicht notwendig. Ich verstehe, daß es sich um eine ernste Sache handelt, und auf mich können Sie sich unbedingt verlassen. Außerdem ist es nicht das erstemal, daß Asbjörn Krag und ich uns treffen. Er hat mir einmal einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Erinnern Sie ihn nur an die ›Witwe mit den zwei Kindern‹, dann wird er schon wissen, daß er in mir einen unbedingten Bundesgenossen hat.«
»Schön! Hier handelt es sich also um ein großes, fein ausgesonnenes Verbrechen.«
»Das kann ich mir denken.«
»Es ist ein Mann, der das gefährlichste Hindernis, Asbjörn Krag, für einige Tage weghaben will.«
»Verstehe.«
»Aber er will kein Mörder sein.«
»Ist auch viel riskanter.«
»Haben Sie den rotbärtigen Mann unten im Elektrizitätswerk gesehen? Den mit den Gummihandschuhen?«
»Ja, der Mann ist mir sogar aufgefallen.«
»Nun, der ist es.«
Der Doktor nickte.
»Infolge Ihres Ausspruchs dort unten«, fuhr Holst fort, »glaubt er und alle, daß Krag infolge des elektrischen Schlages etwa sechs Tage in mehr oder weniger bewußtlosem Zustande daliegen wird.«
»Das finde ich begreiflich, ja.«
»Aber Asbjörn Krag selbst, als er kürzlich wieder zu Bewußtsein kam, meinte, daß er es in drei oder vier Tagen machen würde. Ja, er müßte es und er würde es – durchaus.«
»Hm,« lächelte der Arzt. »Krag hat ja eine ganz einzige Willensstärke und ungewöhnliche Körperkräfte, also wir werden sehen. Wir werden schon sehen.«
»Nun wünscht aber Krag, daß dies nicht bekannt wird. Alle, verstehen Sie, müssen glauben, daß seine Krankheit mindestens zehn Tage anhalten wird.«
»Und Sie wollen also von mir, daß ich das verbreite?« fragte der Arzt.
»Allerdings. Das ist Krags Wunsch. Und einem gegenüber ist es von besonderer Wichtigkeit.«
»Dem rotbärtigen Ingenieur – Barra heißt er, scheint mir?«
»Sie kennen ihn?« fragte Holst verblüfft.
»Er war hier – unmittelbar, bevor Sie kamen. Er wollte sich erkundigen.«
Der Telegrapheningenieur sprang mit einem Ausruf der Enttäuschung auf – »Also doch alles verloren.«
»Durchaus nicht,« erwiderte der Doktor gelassen. »Er hat nichts erfahren.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn gar nicht empfangen habe,« bemerkte der Arzt mit einem leisen Lächeln. »Mir hat der Mann auf den ersten Blick mißfallen.«
»Aber wie soll er dann die Nachricht von den zehn Tagen erhalten?«
»Ueberlassen Sie das mir,« sagte der Doktor. »Er wird schon wiederkommen, und dann empfange ich ihn bestimmt.«
»Dann bin ich vollständig beruhigt,« sagte Holst und erhob sich, um sich von dem Arzt zu verabschieden. Er wußte jetzt, daß er in ihm einen vortrefflichen Bundesgenossen erworben hatte.
Ein paar Stunden später war Holst wieder in Asbjörn Krags Wohnung. Die Wirtin öffnete ihm und teilte mit, daß Krag wieder schlief. Aber er war lange halbwach gelegen und hatte phantasiert, namentlich von einem Eisenbahnzug.
»Was hat er denn gesagt?« fragte Holst in großer Spannung.
»Unzählige Male hat er einen Namen ausgesprochen, Barra, glaube ich. Dann hat er von einem Eisenbahnzug gesprochen und von Telegrammen, die eingelaufen sein müssen, und von Sendungen von Goldsäcken. Es handelt sich um Menschenleben – Menschenleben, hat er dann mehrere Male gesagt.«
Holst ging in das Krankenzimmer. Krag lag da und schlief. Sein Gesicht war so weiß wie die Kissen, auf denen sein Kopf ruhte. Bei Holsts Eintreten wandte Krag den Kopf und sah zu ihm hin.
»Wie viele Stunden sind vergangen?« fragte er mit schwacher Stimme.
»Acht,« erwiderte Holst.
»Gott sei Dank. Da haben wir noch Zeit.«
»Kann ich vielleicht irgend etwas für Sie tun?« fragte der Ingenieur.
»Ja,« erwiderte der Detektiv etwas lebhaft. »Sie müssen Barra aufsuchen. Sie dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren.