Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad

Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten - Sven Elvestad


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über ihr Gesicht.

      Sie mußte heftig gelaufen sein, denn sie atmete schwer und rasch. Ihr Kopftuch war ihr auf den Nacken geglitten, so daß sie mit bloßem Kopf dastand. Das beinahe weiße Haar war vom Wind aufgewühlt, ihr Gesicht war noch jung, aber die Jugend darin war gleichsam von den Falten der Trauer und des Kummers ausgelöscht.

      In diesem verheerten Gesicht erschien nun ein Lächeln, ein seltsames, wahnwitziges Lächeln. Es wirkte so feindselig und unmenschlich, daß Ann-Mari unwillkürlich nach Sigvards Hand griff und ängstlich seinen Namen flüsterte.

      *

      Signe schien von jener schrecklichen Hast gejagt, die Geisteskranken eigen ist, wenn ihre Vorstellungen sie ganz beschäftigen. Sie ging rasch auf die beiden jungen Menschen zu, unruhig vor innerer Bewegung und doch mit einem Widerschein von Freude im Gesicht.

      Sie konnte es nicht erwarten, sich mitzuteilen, und ihre Stimme hatte einen vertraulichen Klang.

      Sie zog Ann-Mari zum Tisch hin, so daß der Lampenschein auf das Gesicht des jungen Mädchens fiel. Sie befühlte ihr Haar und ihre Schultern liebkosend und winselte förmlich vor Freude. Sigvard ging auch hin und schnellte sich mit einem Sprung auf den Tisch. Ann-Mari schien tief betrübt. Signe merkte es und wollte sie trösten, wie eine Mutter ein verschrecktes Kind tröstet, und ihr etwas von dem Überfluß ihres Glücks geben.

      »Sei ganz ruhig, Ann-Mari«, sagte sie. »Du brauchst dich vor nichts zu fürchten. Sieh mich an! Fürchte ich mich? Nein, ich bin glücklich, denn jetzt weiß ich bestimmt, daß die Zeit gekommen ist, und da mußt du auch glücklich sein. Ich habe das Licht draußen auf den Schären gesehen. Es begann heute in aller Früh. Ich sah es weit, weit draußen. Dann kam es immer näher. Und am Abend war es klarer denn je. Es steht gerade über dem Hause, oben zwischen den Sternen.«

       »Ach Mutter«, sagte Ann-Mari.

      »Darauf habe ich soviele Jahre gewartet«, fuhr Signe eifrig und überredend fort. »Jetzt ist es endlich gekommen. Es ist gekommen zu uns beiden, und vielleicht zu allen. Wenn ich dort draußen stehe, fühle ich es über mir wie Strahlenglanz, es wärmt nicht, aber es macht mich glückselig. Ich sehe alles jetzt anders. Wenn ich in der Dunkelheit an den Häusern vorbeigehe, fürchte ich mich nicht mehr vor den Menschen. Die wissen nicht, was uns widerfahren ist, aber ich weiß es. Ann-Mari, wie viele Jahre habe ich darauf gewartet. Noch eine kleine Weile, dann ist alles vorbei.«

      Ihre Augen strahlten vor Seligkeit.

      »Ach Mutter, was ist es?« fragte Ann-Mari verzweifelt.

      Signe antwortete nachsichtig:

      »Weißt du es nicht, Ann-Mari? Es ist die Erlösung.«

      »Signe, du solltest versuchen ein bißchen zu schlafen«, sagte Sigvard freundlich. »Du mußt sicherlich sehr müde sein.«

      »Schlafen«, schrie die Wahnsinnige erschauernd auf. »Nein, ich kann nicht mehr schlafen.«

      »Soll jemand kommen?« fragte Ann-Mari.

      »Ja, jemand wird kommen.«

      Signe begann zu lauschen, dort oben ging eine Tür, sehr vorsichtig, und man hörte schleppende Schritte, die sich irgendwo in dem großen Hause verloren. Das war Kaisa.

      Während Signe so starrend und lauschend stand, hatte sich Signes Aufmerksamkeit der großen Doppeltür zugewandt, die zum Fluß hinausführte. Sie war so mächtig wie ein Scheunentor. Wenn beide Flügel zurückgeschlagen waren, konnte man im Fall einer Sturmflut die Boote bis in die Wirtsstube hineinziehen. Nun war die Tür jedoch geschlossen und füllte den größten Teil der Wand aus – in ihrer spitzbogigen Form und mit den schräggestellten Balken konnte sie im Dunkel einer Tanne gleichen.

      Signe sah die Tür wie verzaubert an.

      Heftig umklammerte sie Ann-Maris Arm. Plötzlich wies sie hinauf und sagte:

      »Da ist ein Kreuz! Seht! Da ist ein Kreuz!«

       »Das ist ja nur die große Brückentür«, sagte Ann-Mari ängstlich.

      Das Dunkel, die Stille und Signes furchtbare Unruhe hatten das Mädchen und den Knaben ganz ängstlich gemacht. Sie starrten auch die Tür an, die sie doch so gut kannten, aber es war, als hätte sie jetzt ein anderes Aussehen, eine kirchliche Höhe und Weihe. Die Wahnsinnige wiederholte nur: »Das ist das Kreuz«, und strich beruhigend über Ann-Maris Haar.

      Von oben hörte man Stimmen. Zwei Menschen, die miteinander sprachen.

      »Das ist Kaisa und Johannes«, sagte Sigvard förmlich befreit, den Laut anderer Menschenstimmen zu hören. Man konnte nicht verstehen, was dort oben gesprochen wurde, dazu war das Haus aus zu schweren Planken erbaut. Aber schon die Laute, die zu ihnen herabdrangen, ließen den Ton der Stimmen erraten: die Kaisas zorniger Hohn, die des Mannes brummiger Widerspruch.

      Bevor noch Kaisas Schritte auf der Treppe ertönten, wußte Signe, daß die Alte kommen würde. Sie knüpfte das Tuch um den Kopf und ging auf die Tür zu. Sigvard versuchte sie zurückzuhalten, aber es war vergeblich.

      Signes Blick drückte eine wahnwitzige Schlauheit aus, sie war von ihren Vorstellungen völlig besessen und ließ sich durch menschlichen Eingriff nicht stören. Wieder wanderte sie hinaus in den Sternenschein.

      »Hast du sie verstanden?« fragte Ann-Mari nachdenklich. »Das Kreuz? Was meinte sie damit?«

      »Am Jahrestag ist sie ja immer so«, gab Sigvard zur Antwort. »Sonst können Monate vergehen, ohne daß sie ein Wort redet.«

      »Diesmal verstehe ich sie gar nicht.«

      Sigvard legte den Riemen der Ziehharmonika über die Schulter. Während er seinen Rock zuknöpfte, ruhte sein Blick die ganze Zeit auf der Brückentür. Er zeichnete mit dem Zeigefinger eine lotrechte Linie durch die Luft, die der Türspalte folgte – und darüber zeichnete er eine Querlinie, ein Kreuz. Er blinzelte mit den Augen, um das Bild auf der Tür festzuhalten.

      »Es kann schon so aussehen, wenn die Felder im Schatten liegen,« sagte er, »man kann viele seltsame Figuren aus der Stellung der Planken herausbekommen. Es ist so, wie wenn man fremde Menschenköpfe auf den Felsschroffen in der Ferne sieht.«

      Er hörte Kaisa die Treppe herunterkommen und fragte:

      »Sollen wir gehen? Oder willst du zuerst hören, was sie zu sagen hat?«

      Ann-Mari wollte nicht gehen.

      Kaisa humpelte durch die Küche, sich auf ihren Stock stützend. Sie murmelte etwas in sich hinein, es war der letzte Nachhall des Zankes mit dem Mann. Und zwischen den Worten stieß sie Kehllaute aus, die einen unheimlichen Anstrich von Fröhlichkeit hatten.

      Die Fährleute gingen immer so herum und murmelten Flüche in sich hinein. Als sie über die Schwelle trat, hörte sie mit ihrem Gebrumm nicht auf, aber tat, als spräche sie zu einem großen schwarzen Kater mit buschigem Schwanz, der um ihre Röcke strich.

      »Die Lampe geht aus«, sagte sie. Dabei warf sie einen Blick von einem zum andern und lächelte. Kaisa hatte noch alle Zähne im Munde, das Lächeln flackerte weiß in ihrem Gesicht und hob dessen zigeunerhaftes Gepräge hervor.

      »Für Liebesstunden ist die Dunkelheit gerade recht,« sagte sie, »geh und hol eine Kerze.«

      Sigvard ging in die Küche, aus der er gleich darauf mit einer angezündeten Kerze in der Hand zurückkehrte. Er stellte sie auf den Tisch und löschte die rauchende Lampe aus. Es wurde nun noch dunkler in der Stube. Gewaltige Schattenfiguren huschten lautlos über die Wände, wenn die Menschen sich bewegten.

      »Ist sie dagewesen?« fragte Kaisa.

      Man verstand sofort, wen sie meinte. Sigvard nickte.

      »Sie ist wieder fort«, sagte er.

      »So närrisch wie heute habe ich sie noch nie gesehen ... das Luder«, fügte sie hinzu.

      »Ihr seid zu hart gegen sie«, bemerkte der junge Bursche ernst. »Ihr vergeßt, daß sie krank und vom Unglück gezeichnet ist. Wenn Ihr nachsichtiger


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