Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar Wallace
später schüttelte ein schlanker Mann mit braunem Gesicht Gordons Hände, und wenn er sie nicht mehr schüttelte, dann drückte er sie.
»Das ist ihr Onkel! Noch so jung! Und doch ist er älter als er scheint! Und das ist Tante Lizzie!«
Er stürzte auf sie zu und küßte die geduldige Heloise auf beide Wangen.
Gordon stand vollständig verwirrt dabei. Wer war denn dieser verfluchte Bursche? Diana hatte es ganz versäumt, ihn vorzustellen. Nach einer Weile holte sie es aber nach.
»Mein lieber Onkel Artur, dies ist Mr. Giuseppe Dempsi. Du erinnerst dich – ich habe doch des öfteren über ihn gesprochen?«
Ihr vernichtender Blick war unnötig. Gordon erinnerte sich tatsächlich daran.
»Ich dachte, er sei tot.« Ihn überkam plötzlich ein sonderbares Gefühl, so daß er im tiefsten Baß sprach. Er war selbst darüber verwundert.
»Aber ich lebe! Freuen Sie sich, Onkel Artur! Ihr kleiner Wopsy lebt! Ich bin von den Schatten zurückgekehrt. Der süße Zauber einer Sirene brachte mich wieder zur Welt zurück, selbst aus dem Reich der Schatten …!«
Er zeigte mit einer theatralischen Gebärde auf Diana.
»Meine Braut!« sagte er mit zitternder Stimme.
Gordon sah von einem zum anderen. Dempsi – Braut – Braut – Dempsi!
»Das ist doch wirklich lächerlich!« rief er, zuckte aber gleich unter einem zerschmetternden Blick Dianas zusammen.
Aber Mr. Dempsi war zu glücklich, um sich irgendwie in seiner guten Laune stören zu lassen.
»Mein Onkel muß jetzt gehen – er muß die Hühner füttern«, sagte Diana hastig.
Sie war sehr enttäuscht, als sie erkannte, wie wenig sie sich auf ihre Stützen und Helfer verlassen konnte. Sie ging gleich nach ihnen in die Küche.
»Sie sind beide unbrauchbar, Sie haben mich schön blamiert«, rief sie ganz verzweifelt. »Sie mögen ja ganz tüchtige Verbrecher sein, weil Sie zu nichts anderem taugen. Sie standen wie Wachspuppen aus der Schreckenskammer da und haben weder etwas gesagt noch etwas getan!«
»Was sollten wir denn tun?« fragte Gordon. »Wenn ich getan hätte, wonach mir der Sinn stand, hätte ich diesen zappeligen kleinen Wopsy auf die Straße geworfen! Aber Sie sind ja jetzt Herr im Hause, Sie wollen ja nicht einmal die einfachste Erklärung entgegennehmen!«
»Aber zu Ihrer einfachsten Erklärung paßt es schlecht, daß Sie Tante Lizzie mitgebracht haben!« unterbrach sie ihn schroff. »Sie hätten mich vielleicht täuschen können, wenn Sie hier nicht mit Ihrer Komplicin, Ihrer Frau, aufgetaucht wären. Seien Sie doch vernünftig, Mann! Ich weiß doch genau, daß Sie der Doppelgänger sind! Ich werde Sie hier irgendwie verwenden, wenn es geht – wenn es nicht geht, schicke ich sofort zur Polizei! Mr. Superbus muß in jedem Augenblick kommen – der wird Sie bewachen! Also versuchen Sie, sich so aufzuführen, wie es einem Onkel zukommt.«
Gordon wand sich in seelischem Schmerz.
»Wie kann ich mich denn wie ein Onkel benehmen, wenn Sie mir einen verteufelten Detektiv vor die Nase setzen, um mich zu bewachen?« fragte er wütend. »Es ist doch kein Verbrechen, ein Onkel zu sein, meine Liebe! Sie können doch nicht einfach sagen: ›Bewachen Sie den Mann, er ist mein Onkel Artur!‹ Von Ihrem Standpunkt aus mag ja ein Onkel an sich eine verdächtige Tatsache sein, aber in diesem Lande ist man nicht der Ansicht! Wie wollen Sie denn das dem Mann erklären?«
Sie sah ihn verächtlich an.
»Ich kann ihm ja sagen, daß Sie nicht ganz richtig im Kopf sind«, erwiderte sie kühl. »Und das werde ich tun!«
Gordon lehnte sich an den Tisch, um einen Halt zu haben.
»Ich bin aber nicht schwachsinnig!« protestierte er heftig.
Sie warteten, bis Dianas Schritte verhallt waren.
»Das kommt von einem Ausflug nach Ostende«, sagte Mr. Selsbury. Seine Stimme überschlug sich beinahe.
»Wenn Sie bloß nach Ostende gereist wären! Dann hätte alles nicht passieren können!« fuhr ihn Heloise wild an. »Es ist Ihnen doch klar, daß mein Mann mir folgte und daß er in diesem Augenblick wahrscheinlich auf den Treppenstufen sitzt und nur darauf wartet, Ihren armen Geist von seiner irdischen Hülle zu befreien?«
Gordon strich müde und verzweifelt mit der Hand über die Stirn.
16
Diana fühlte sich unsäglich erschöpft. Im allgemeinen war sie unermüdlich, aber die vielen Anforderungen, die augenblicklich an ihre Energie und Nervenkraft gestellt wurden, überstiegen doch ihre Kräfte.
Als Dempsi gegen Abend unruhig wurde, weil er Hunger hatte, fiel es ihr ein, daß sie ganz vergessen hatte, sich um das Abendessen zu kümmern. Obendrein kam noch ein Mann, der ärmlich gekleidet war und nicht sehr sauber aussah. Sein hageres, gelbes Gesicht war unrasiert, und er hielt den Kopf etwas schief. Bei dem Anblick Dianas wich er sichtlich zurück.
»Guten Abend, Miss«, sagte er und langte an seine Mütze. »Ich bin wegen des Geldes gekommen.«
»Wegen des Geldes?« fragte sie überrascht.
»Ich will mir mein Geld holen – ich habe gestern die Fenster geputzt.
Nun erinnerte sie sich an ihn. Eleanor hatte sich gestern über ihn beschwert, daß er im Studierzimmer überall herumspionierte, und hatte Zweifel an seiner Ehrlichkeit geäußert.
»Ich heiße Stark«, sagte er ermutigend.
»Ja, ich kann mich jetzt besinnen.« Sie ging, um ihre Handtasche zu holen. Als sie wieder zurückkam, betrachtete er das Türschloß mit mehr als gewöhnlichem Interesse. Um seine Neugierde zu entschuldigen, sagte er, daß er früher Schlosser gewesen sei.
»Mr. Selsbury ist nicht zu Hause?«
»Nein.«
»Und Mr. Trenter ist auch nicht da?«
»Nein.«
Seine Augen glänzten.
»Wird Mr. Selsbury lange fortbleiben? Ich wollte wegen einer Anstellung mit ihm sprechen.«
»Ich weiß nicht, wann er wieder zurückkommt. Aber es sind verschiedene Männer hier im Hause – wollen Sie einige von ihnen sehen?«
Er machte ein langes Gesicht.
»Nein, ich danke Ihnen, Miss.«
Sie schloß die Tür hinter ihm zu und war neugierig, wann der Detektiv endlich kommen würde. Es lag doch noch eine ziemliche Geldsumme im Schrank, und Leute, die nichts von ihrer Verpflichtung gegenüber Dempsi wußten, konnten denken, daß noch mehr da sei.
Dempsi war nicht im Studierzimmer, als sie jetzt hereinkam. Schnell ging sie zu dem Geldschrank. Es war eines dieser altmodischen Exemplare, die außer der Vorrichtung zur Buchstabeneinteilung noch ein besonderes Schloß hatten. Gordon hatte ihr gesagt, daß er den Schlüssel dazu überhaupt nicht mehr benützte. Er hatte ihn einmal verlegt und einen Schlosser rufen lassen müssen, um die Tür zu öffnen. Sie durchsuchte den ganzen Schreibtisch, zog alle Schubladen auf und fand schließlich auch einen kleinen Briefumschlag, auf dem obendrein noch »Schlüssel« stand.
»Gott sei Dank!« sagte sie. Schnell schloß sie den Geldschrank ab. Nun war er gegen alle gesichert, die durch List oder Anwendung von Gewalt vielleicht das Schlüsselwort erfahren hatten.
*
Mr. Julius Superbus kam gewichtig daher. Er stieg aus einem Auto, stellte sein ganzes Gepäck zunächst auf den Gehsteig und bezahlte den Chauffeur. Er gab ihm einen halben Schilling Trinkgeld,