Damals bei uns daheim. Hans Fallada

Damals bei uns daheim - Hans  Fallada


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für sie. Jungens gingen nicht so leicht verloren, meinte der Wachthabende. Nein, irgendeine Meldung von verunglückten Kindern liege nicht vor. Die Herren sollten nur ruhig ins Bett gehen, meist erledigten sich solche Vermisstmeldungen am nächsten Morgen von selbst …

      Mein Vater war empört. Er glaubte unbedingt an den fürsorgenden Vater Staat (von dem er in seinem kleinen Bezirk wirklich das gütigste und hilfsbereiteste Muster war), und es tat ihm immer in der Seele weh, wenn er im rauen Leben sah, dass dieser Vater manchmal gar nicht sehr fürsorglich, sondern oft gleichgültig, oft ungerecht, oft grob war.

      Aber das alles war sofort vergessen, als sie wieder in Fötschens Wohnung kamen. Hans Fötsch war eingetroffen. Mein Vater erwartete, nun auch den eigenen Sohn daheim vorzufinden. Aber schon die ersten Worte des Jungen zerstörten diese Illusion. Zwar versuchte Hans Fötsch zu schwindeln, Ausflüchte zu machen, zu vertuschen, aber sein Vater war nicht gegen Prügel. Es regnete nur so Ohrfeigen, und schließlich erfuhren die Herren, zwar etwas wirr, dass Fötsch mich irgendwo im Norden Berlins verlassen hatte, dicht beim Scheunenviertel, mich unbegreiflich weigernd, mit der Elektrischen zu fahren …

      »Komm, Hans, mein Rabe!« sagte Doktor Fötsch bedeutungsvoll, und bei dem nun folgenden Strafgericht war mein Vater überflüssig.

      Er musste heim zur Mutter gehen, er musste ihr die schlimme Botschaft bringen, dass ich im verrufensten Quartier Berlins zurückgeblieben sei, er musste ihr sagen, dass sie nichts tun könnten, nur warten …

      Und so warteten die beiden. Vergessen lagen die Akten, die Flickwäsche. Meine Geschwister waren ins Bett gesteckt worden, schliefen darum aber noch nicht. Sie fanden es angenehm erregend, einen verlorenen Bruder zu haben. Alle fünf Minuten erschien die alte Minna, in ihre Schürze schnüffelnd, und erkundigte sich nach Neuigkeiten.

      Gegen zehn Uhr endlich klingelte es, meine Eltern stürzten auf den Flur – es war aber nur der Portier, der fragte, ob er das Haus noch länger offenhalten solle. Er wäre gerne ins Bett gegangen. Mit einem silbernen Handschlag wurde ihm der Schlaf verscheucht.

      Endlich, um halb elf, klingelte es wieder. Vater sagte mutlos: »Es wird noch mal der Portier sein. Gib ihm zwei Mark, Louise …«

      Da hörten sie meine Stimme auf dem Flur …

      Beide Eltern stürzten hinaus, sie packten mich, zerrten mich in die Stube, ans Licht …

      »Junge, wo kommst du her? – Wo bist du gewesen?! – Weißt du vielleicht, wie spät es ist –?!!«

      Diese Fragen stürzten auf mich ein, ich sah wohl die Spuren der Angst in den Gesichtern der Eltern – und ich übergroßer Schafskopf sage mit gespielter Gleichgültigkeit: »Ich war bei Hans Fötsch – und deren Uhr ist stehengeblieben!«

      Batsch! – hatte ich eine Backpfeife links weg. Batsch! – folgte ihr eine rechts.

      »Warte, ich will dich lügen lehren, du infamer Bengel du!« rief mein Vater und machte mit diesem Ausruf all seiner Sorge, Angst und Kummer Luft. Er sah sich suchend um im Zimmer. Ach, mein armer guter Vater war nicht wie Doktor Fötsch für solche Strafgerichte eingerichtet, er fand weiter nichts als das schöne Weichselrohr seiner geliebten langen Pfeife. Aber mit diesem Rohr verwalkte er mich gründlich, zum ersten- und hoffentlich auch letztenmal in meinem Leben wurde ich über das Knie gelegt und nach Noten verdroschen. Es war eine überaus eindrückliche Belehrung, die ich nie vergessen habe. Und geschadet hat sie mir bestimmt nicht …

      Und doch wäre vieles in meinem Leben vielleicht anders gekommen, wenn mein langmütiger Vater nicht gerade an diesem Abend die Geduld verloren hätte. Vielleicht hätte ich, nicht so summarisch abgestraft, den Mut gefunden, ihm von meinen Ideen über Elektrische mit Schutzgittern etwas zu erzählen, und vielleicht hätte er dabei doch – obwohl so etwas damals leicht als kindische Albernheit abgetan wurde – aufgehorcht und sich gesagt: Dahinter steckt etwas anderes, und zwar leider noch etwas Schlimmeres als Unpünktlichkeit und Schwindeln.

      So habe ich meine ganze Jugend hindurch – und noch manches Jahr danach – an diesen immer wiederkehrenden fixen Ideen gelitten und habe doch damals nie mit einem Menschen darüber sprechen können. Die Gelegenheit war mit jenem Prügelabend endgültig verpasst.

      Manchmal waren diese Ideen vergleichsweise harmlos. So, wenn ich stundenlang im Bett wach lag und darüber grübelte: hast du auch einen Punkt hinter dem letzten Satz deines Exerzitiums gemacht? Schließlich musste ich dann doch aufstehen und nachsehen, und natürlich war der Punkt immer gemacht.

      Manchmal betrafen diese Ideen freilich auch Schlimmeres …

      Über die dritte schwere Niederlage aber, die ich durch meine Freundschaft mit Hans Fötsch erfuhr, werde ich im nächsten Abschnitt berichten.

      Penne

      In der Schule oder, wie wir sie nur nannten, in der Penne spielte ich zu jener Zeit eine höchst unselige Rolle. Ich ging auf das Prinz-Heinrich-Gymnasium in der Grunewaldstraße, und das war damals ein sehr feines Gymnasium, womit gesagt werden soll, dass dort in der Hauptsache die Söhne vom Offiziers- und Beamtenadel, auch von reichen Leuten die Schulbank drückten. Meine Eltern aber waren für äußerste Sparsamkeit, so kam es, dass ich, war eine Hose durchgerutscht, keine neue bekam, sondern dass meine Mutter ein paar handfeste Flicken in die arg verwundete setzte. Da sie nun aber oft keinen genau passenden Stoff hatte, so wurden ohne erhebliche Hemmung auch andere Stoffe dafür gewählt. Das ist nun gut fünfunddreißig Jahre her, und doch sehe ich diese Hose des Unheils noch genau vor mir: es war eine dunkelblaue Bleyle-Hose, und mit grauen Flicken wurde sie geziert.

      Ach über den Hohn und das Gespött, die mir diese Hose eingetragen hat! Es waren natürlich nicht die wirklich »Feinen« in der Klasse, die mich damit aufzogen. Die übersahen den Defekt vornehm, freilich war ich auch für jeden Umgang mit ihnen erledigt. Fragte ich sie etwas, so antworteten sie mir nur kurz mit geringschätziger Herablassung, was mich tief schmerzte und auch empörte. Aber die andern, die Coyoten der Wölfe gewissermaßen, wie offen und schamlos verhöhnten sie mich! Da war einer, ein langer Laban, über einen Kopf war er größer als ich, Friedemann hieß die Canaille, im Unterricht durch äußerste Unwissenheit ausgezeichnet, schon dreimal bei der Versetzung »kleben« geblieben – aber etwas verstand dieser Bursche ausgezeichnet: mich zu zwiebeln!

      Wenn die große Pause gekommen war, die wir alle auf dem Schulhof verbringen mussten, machte er sich an mich heran, bugsierte mich viel Schwächeren in eine Ecke des Hofes, wo wir vor den Augen des aufsichtsführenden Lehrers einigermaßen sicher waren, und begann ein Gespräch mit mir, über Näh- und Flickarbeit etwa. Bald hatte sich ein ganzer Kreis von Zuhörern um uns gesammelt, die »Feinen« natürlich nur an seiner äußersten Peripherie. Bei besonders trefflichen Witzen wurde tobend gelacht und applaudiert, Friedemann auch zu noch besseren Leistungen angefeuert.

      Ich sehe mich da noch stehen, blass, kränklich, verzweifelt, in meinem Mauerwinkel. Die ganze Penne freute sich ihrer Freiviertelstunde, mir war sie eine Qual. Immer atmete ich auf, wenn es wieder zum Unterricht läutete. Listig versuchte ich, meinen Peinigern zu entgehen. Ach, ich war nicht so überaus listig! Versteckte ich mich beim Beginn der großen Pause im Klassenzimmer, so stöberte mich sicher in den ersten drei Minuten ein Lehrer auf und schickte mich mit einem strengen Verweis auf den Hof, denn wir sollten nun einmal in der großen Pause frische Luft schnappen. Riegelte ich mich aber auf einer Toilette ein, so hatte mein Quälgeist das bald heraus. Er trommelte so lange gegen die Tür, bis ich klein beigeben und mich ihm stellen musste.

      Oh, wie ich ihn gehasst habe, diesen langen Friedemann mit seinem weißen, pickligen Gesicht, mit den frechen blassen Augen hinter einer Nickelbrille! Wenn er da mit seiner näselnden, überlegenen Stimme anfing, mich nach meiner Ansicht über Flickschneiderei zu befragen, über die Farbwahl bei Flicken, ob ich Rot nicht für eine wunderschöne Farbe hielte, nein, nicht? Aber vielleicht Grün mit Rot, rechts Rot, links Grün, und ein gelber Flicken vorne –? (Beifallsgejohle der andern.) Mein Vater flicke ja wohl auch meine Schuhe, der Rüster an meinem rechten Schuh sehe ihm ganz danach aus! Da könne man eben nichts machen, es gebe heile Familien und es gebe geflickte Familien. Es sei nur gut, dass ein Exemplar der Flickfamilien auf diesem Gymnasium vertreten sei, als Anschauungsmaterial.

      Auf all diese öden und bösen Scherze antwortete ich meinem


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