Damals bei uns daheim. Hans Fallada

Damals bei uns daheim - Hans  Fallada


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begangen, einen schweren Diebstahl sogar, du kennst doch die Unterscheidungen! Und Hans Fötsch hast du auch verführt!«

      Wir waren oben. Mit angstvollem Gesicht hatte meine Mutter mich erwartet. Jetzt ging sie uns voran in meines Vaters Arbeitszimmer, die Tür schloss sich hinter uns, und ich stand als Angeklagter vor meinen Eltern. Jetzt half kein Lügen und Leugnen mehr, es gab zu viel Beweismittel gegen mich, denn Hans Fötsch hatte alles gestanden!

      Am Abend zuvor war seiner Mutter zufällig die Schultasche in die Hand geraten, grade weil sie Hans an einem ungewohnten Platz aufbewahrt hatte, ihre Schwere hatte sie stutzig gemacht, und von da bis zu einem Geständnis war nur ein kurzer Schritt gewesen. Leider aber hatte sich Hans nicht als getreuer Freund erwiesen, sondern hatte sich völlig als den Verführten hingestellt, auch meinen Diebstahl gebührend angeprangert, während er seine eigenen kleinen Mausereien mit Stillschweigen übergangen hatte. Noch in der Nacht waren Fötschens zu meinen Eltern geeilt und hatten lebhafte Klage über mich geführt. Ihrem Sohn war jedenfalls aller weitere Verkehr mit mir untersagt worden.

      All dies hatte meine Eltern natürlich sehr schwer gekränkt. Meinen Vater betrübte am meisten der Diebstahl, den er grade als Richter schwerer nahm als jeder unjuristische Vater. Mutter verstand nicht, dass mir bei all ihrer liebevollen Fürsorge die Verhältnisse im Elternhaus so unerträglich erschienen waren. Besonders mein Mangel an Vertrauen hatte sie tief verletzt.

      Leider habe ich von Kind auf nie die Gabe besessen, mich aussprechen zu können. Wie ich keinem, nicht einmal dem Freunde Hans Fötsch, etwas Näheres über meine Schulmiseren hatte erzählen können, so war es mir auch in dieser Stunde notwendiger Geständnisse nicht gegeben, meinen Eltern mehr als ein paar kümmerliche Fetzen von meinen Drangsalen zu berichten. Was sie da hörten, schien ihnen ganz unbefriedigend, keinesfalls ausreichend zur Begründung eines so wahnsinnigen Schrittes.

      Immerhin hielt mein Vater, der wohl wusste, dass ein Untersuchungsrichter Material nicht nur gegen, sondern auch für den Beschuldigten zusammenzutragen hat, es für seine Pflicht, sich erst einmal in der Schule zu erkundigen, was eigentlich mit mir los sei. Bis dahin wurde ich in meinem Zimmer bei hinreichend Schularbeiten eingeschlossen.

      Mit inniger Befriedigung muss Professor Olearius den betrübten Bericht meines Vaters angehört haben. Dahin kamen also die Burschen, die sich weigerten, lateinische Verben zu lernen! Schiffsjunge – wahrhaftig! Und er gab meinem armen Vater die schwärzeste Schilderung von meinen Neigungen, Charakter, Fähigkeiten.

      »Ich muss Ihnen empfehlen, mein sehr verehrter Herr Kammergerichtsrat«, schloss Professor Olearius triumphierend, »Ihren Sohn sofort vom Gymnasium abzumelden. Schon damit er einem consilium abeundi entgeht, denn ich fühle mich verpflichtet, das mir von Ihnen Mitgeteilte dem Lehrerkollegium zu unterbreiten. Für die weitere Bildung Ihres Sohnes halte ich nun freilich eine Volksschule für das höchst Erreichbare, vielleicht wäre noch richtiger eine Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Dieses ewige Heulen, diese Unfähigkeit, auch die einfachsten lateinischen Formen zu erlernen, scheinen mir auf einen leichten Schwachsinn zu deuten.«

      Mein Vater war geneigt gewesen, schwarz, sehr schwarz von meinen Vergehen zu denken. Aber diesen böswilligen Übertreibungen gegenüber empörte sich sein Vaterherz. Er meinte seinen Sohn anders und besser zu kennen. Und wenn dieser Lehrer seinen Sohn so beurteilte, sprach das nicht gegen den Sohn, sondern gegen den Lehrer!

      Recht erregt antwortete er, dass er seinen Sohn allerdings mit sofortiger Wirkung vom Gymnasium abmelde, aber nur, um ihn sofort auf einem andern Gymnasium anzumelden. Er hoffe dort auf einsichtigere Pädagogen.

      Mit unerschütterlicher Überlegenheit behauptete Professor Olearius, auch dort werde ich völlig versagen, ich sei nun einmal unheilbar schwach begabt …

      Die Herren trennten sich in einiger Erregung, nicht sehr Gutes voneinander denkend. Professor Olearius beklagte die Affenliebe mancher Väter, mein Vater die Einsichtslosigkeit des Schulmonarchen. Immerhin habe ich es aber nur den bösen Auskünften von Professor Olearius zu danken, dass mein Vater in wesentlich milderer Stimmung nach Hause kam. Der Diebstahl blieb wohl immer noch ein sehr dunkler Fleck, aber die Verzweiflung, in der ich mich bei einem so verständnislosen Lehrer befunden haben musste, entschuldigte vieles.

      Noch am gleichen Tage wurde ich beim Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf angemeldet. Vorsichtig ließ mein Vater ein paar Worte über meine Verschüchterung und Mutlosigkeit fallen. Und sie fielen bei meinen Lehrern auf guten Grund. In der ersten Zeit ließen sie mich ganz zufrieden, und als sie mich dann langsam in das Wechselspiel von Frage und Antwort einbezogen, geschah dies mit solcher Vorsicht und Güte, dass ich nie mehr verschüchtert war, sondern sagen konnte, was ich wusste.

      Da nun auch meine Klassenkameraden nicht ahnten, dass ich einmal der armselige Prügelesel einer Klasse gewesen war, und da am Bismarck-Gymnasium keinerlei Vorurteil gegen geflickte Hosen bestand, habe ich armer, schwachsinniger Knabe mir bald einen guten Platz erobert und war schon bei der nächsten Versetzung der Sechste unter zweiunddreißig.

      Mein lieber Vater aber, dessen Herz sonst nie etwas von Rache wusste, ließ eine beglaubigte Abschrift dieses Zeugnisses anfertigen und sandte sie an Professor Olearius mit einem kleinen Begleitschreiben, wie der Herr Professor jetzt über meine Fähigkeiten denke? Ob er nicht doch vielleicht einräume, sich mit seiner Beurteilung geirrt zu haben?

      Natürlich ist nie eine Antwort gekommen.

      Manchmal sahen Hans Fötsch und ich uns noch auf der Luitpoldstraße. Aber wir sprachen nie wieder ein Wort miteinander, wir wagten nicht einmal, einander ins Auge zu sehen …

      Prozesse

      Mein Vater war mit Leidenschaft nur eines, nämlich Jurist. Der Richterberuf schien ihm einer der edelsten und verantwortungsvollsten von allen. Schon sein Vater war Jurist gewesen und vor ihm der Vater seines Vaters und so fort; so weit Gedächtnis der Familie und Überlieferung reichten, war immer der älteste Sohn in unserer Familie ein Jurist gewesen, während im mütterlichen Stamm das Pastörliche überwog. Was Wunder, dass mein Vater den dringenden Wunsch hatte, auch aus mir, seinem ältesten Sohne, einen Juristen zu machen.

      Schon früh erzählte mir mein Vater, wie er, damals Alumne der hochberühmten Schulpforta, die Gründung des Deutschen Reiches erlebte und die Errichtung eines Deutschen Reichsgerichts. Wie schon damals nicht nur der Wunsch, sondern der feste Vorsatz in ihm wach geworden sei, Richter an diesem Reichsgericht zu werden. Er stellte mir vor, welche Festigkeit dieser Entschluss seinem ganzen Lebensplan gegeben habe, und wenn ich ihm, der mir damals schon uralt erschien, vorhielt, dass er nun doch nicht Reichs-, sondern bloß Kammergerichtsrat geworden sei, so pflegte er ohne jede Kränkung mit seinen Augenwinkeln zu lächeln und sagte wohl: »Warte nur noch drei oder vier Jahre, mein Sohn Hans, und du wirst es erleben. Ich habe die allerbesten Aussichten, und so nehme ich an, dass die andern auch die nötige Einsicht haben werden.«

      Und er hat recht behalten: ich war noch nicht fünfzehn, da wurde Vater Reichsgerichtsrat.

      Unbegreiflich erschien mir bei einem so schwachen, von Krankheit ständig bedrohten Manne solches Festhalten an einem Jugendplan. Durch fast vierzig Jahre ein einziges, allerdings im Möglichen gestecktes Ziel zu verfolgen kam mir nicht nur unmöglich, sondern auch geradezu langweilig vor.

      Ich war immer auf der Suche nach etwas Neuem, mit jeder so rasch wechselnden Stimmung kamen andere Gedanken und Vorsätze in mir auf, nichts dauerte bei mir …

      Gewiss, ich hatte Zeiten, da ich jeden Morgen, wenn alle noch schliefen, in Vaters Arbeitszimmer schlich und seine Akten las. Aber mich interessierte nicht so sehr das juristische wie das Menschliche in ihnen. Mit klopfendem Herzen las ich die Vernehmungsprotokolle des Untersuchungsrichters, eines nach dem andern, in denen der Beschuldigte leugnet, Ausflüchte macht, seine Unschuld beteuert. Bis dann schließlich in einem Protokoll, meist ganz überraschend, das Geständnis der Wahrheit hervorbricht, noch eingeschränkt durch Entschuldigungen, von Lügen verbrämt, aber doch endlich die Wahrheit –!

      Dann konnte ich lange darüber grübeln, was zwischen dem vorletzten Protokoll, in dem der Häftling noch Alibizeugen benannte, noch heilig seine völlige Unschuld beteuert hatte, und diesem letzten Protokoll, in dem er selbst das so mühsam aufgebaute Gerüst seiner Verteidigung zerschlug, was in


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