Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри


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Eine Stunde später rollte der Wagen hinaus, und Rosmarie befand sich auf der Reise. – – –

      Die Lichter der Villa Helena leuchteten durch das kleine Vorgärtchen, das sie von der Lichtentaler Allee trennte. Das Coupé hielt, und Rosmarie und Miß Granger stiegen aus, ein fetter Diener führte sie hinauf in ein freundliches Sälchen, wo Tante Helen lachend und rundlich stand und ihre blasse Nichte in Empfang nahm. »So, Rosmarie, da haben wir dich ja recht plötzlich. Und das ist Miß Granger. How do you do? All right, come along. Miß Granger, Sie haben einen Brief meines Bruders, der mich mächtig interessiert. Du, blasse Jungfrau im Mondenschein, machst einstweilen Toilette, nicht gar so prächtig, wir machen es uns hier Gott sei Dank recht bequem, und kommst dann herunter. Da ist ja deine Lisa, sie kann dir helfen ...«

      Rosmarie ging hinauf in ein hübsches Gastzimmer, und Lisa bürstete ihr Haar und half ihr in das weiße Abendkleid. Wohl mochte die Tante sagen, blasse Jungfrau. – Dann erscholl die Glocke zum Zeichen, daß angerichtet sei und sie erwartet werde. Tante Helen empfing sie mit einem merkwürdig gespannten Gesichtsausdruck und aß für ihre Verhältnisse auffallend wenig.

      »Etwas Ähnliches wäre sehr günstig für meinen Appetit, gegen den ich immer erfolglos ankämpfe ... oder nein, doch lieber nicht.«

      Rosmarie berührte kaum die Speisen und brachte nur mühsam die nötigsten Angaben über ihre Reise heraus. Da erhob sich die Tante.

      »Ich glaube, wir verzichten auf weiteres ... Rosmarie, komm mit in meinen Schmollwinkel.«

      Das war ein reizendes kleines Gemach mit Flügeltüren auf einen Balkon, der gerade über Rosenbeeten schwebte. Die Türen standen offen, und allerhand freundliche Geräusche, ferne Musik, Wagenrollen, Stimmen der Menschen, das Rauschen seidener Kleider, Zigarettenduft drangen herauf.

      »Ja, so läßt es sich leben, ein wenig über dem lieben Nächsten und doch nicht durch dicke Mauern und tiefe Gräben von ihm getrennt ... Wie bist du nur auf einen solchen hirnverrückten Gedanken gekommen, du Unglückskind! Verstand habe ich dir nie viel zugetraut, aber so viel Bosheit auch nicht. Was hast du eigentlich gewollt mit dieser Farce mitten in der Nacht?«

      »Tante Helen, du mußt mir sagen, was ich getan haben soll. Den ganzen Tag warte ich darauf.«

      »Da lies den Brief deines Vaters, wenn es dich nach seinem Urteil gelüstet.«

      Und Rosmarie liest. »Ich bin aufs tiefste erschüttert und empört, ja ein Entsetzen hat sich meiner bemächtigt. Rosmarie hätte heute nacht beinah den Tod zweier Menschen verschuldet. Meinen Sohn habe ich verloren; was darin für mich liegt, kannst du mir ja nachempfinden. Charlotte ist, wie der Arzt jetzt hofft, gerettet. – Rosmarie ist von ihrer Mutter gereizt worden, das gibt Charlotte selbst zu, um einer alten Sache willen ... Ein schweres Gewitter kam hinzu; Charlottes Nerven sind ja leider durch das lange Liegen recht herunter. Am Tage war durch das Hin- und Herrücken des alten Rosenschranks, du kennst ihn ja, eine Tür in einen Gang frei geworden. Aus irgend welchen Gründen fürchtete sich Charlotte vor diesem Gang und sprach darüber mit Rosmarie. Als das schwere Gewitter immer mehr Charlottes Nerven angriff, muß Rosmarie es darauf angelegt haben, ihre Mutter zu erschrecken und zu ängsten. Da nun Charlotte sie flehend bat, immer wieder, ihr Fräulein Bergmann zu holen, sei Rosmarie an jene Gangtür, die frei geworden, getreten, und habe den Riegel vorgezogen. Dann erst sei sie gegangen, aber nicht zu Fräulein Bergmann oder zu mir, so daß Charlotte bei ihrer Aufregung und Furcht in dem entsetzlichen Wetter ganz verlassen war. Es krachte die alte Tür auf. Der Sturm fuhr hinein und drückte ein morsches Fenster mit bleigefaßten Scheiben ein, das sich hoch oben in dem Gang befand. Das stürzte klirrend und polternd herunter, und dazu fuhr eine Staubwolke heraus. Charlotte hielt in ihrer erregten Phantasie, – Rosmarie hatte ihr irgend welche Schauergeschichten vorgelesen – den Lärm für den Einsturz von Särgen. Genug davon, Du wirst Dich nicht wundern, daß Fräulein Bergmann, die endlich doch von selbst kam, Charlotte in Krämpfen fand. So nahm das Unglück denn seinen Verlauf! Du wirst fragen, warum ich bei einem so schweren Gewitter nicht gleich zu Charlotte, deren Ängstlichkeit ich doch kenne, geeilt bin. Beim ersten Schlag schon war der Blitz in den Glockenturm gefahren, und Krüger weckte mich mit der Nachricht. Wir hatten mit allen Leuten zu tun, die schon heftig glimmenden Balken zu löschen. Noch eins muß ich Dir sagen. Rosmaries Benehmen am Morgen, als sie das Unglück schon in seinem ganzen Umfange erfahren haben mußte, war mehr als seltsam. Sie versuchte nicht einmal Trauer zu heucheln! – Es ist mir, als hätte ich zwei Kinder verloren. Rosmarie muß ich aus dem Hause schaffen. Ich bitte Dich, versuche doch, auf sie einzuwirken ...«

      Rosmarie legte das Blatt auf den Tisch und starrte vor sich hin. –

      »Rosmarie ... unüberlegt, trotzig, zornig, wild in Haß und Liebe, das alles – aber gemein, grausam, feig ...! Die Arme in ihrem Elend daliegen lassen und mit ihr Spott treiben. Nein, so sind die Braunecker nicht. Die Familiensimpelei ist nicht mein Fall, aber so weit muß man sein eigenes Blut kennen. Was antwortest du, Rosmarie?«

      »Mein Vater hat recht, wenn er sagt, er habe zwei Kinder verloren ...«

      »Rosmarie, du gibst es zu! Du solltest dich so von deinem Zorn haben hinreißen lassen, um – nein ... Warum denn? Du warst ja als Kind eine richtige Traumliese, und eigensinnig wie – nun wie ein alter Braunecker Eckschädel, aber dieses niederträchtige ... Rosmarie, laß mich doch nicht ganz die Seele aus dem Leibe reden! Mein armer Bruder! Sie haben dich doch nicht so entsetzlich verdummt, daß du nicht wüßtest, um was alles es sich besonders für deinen Vater handelt!«

      Rosmarie hob ihre schweren, starren, müden Augen: »Doch, ich weiß ... alles!«

      »Rosmarie, was soll ich deinem Vater schreiben? Verteidige dich doch! Wenn deine Mutter in irgend etwas übertrieben hat, so wehr dich! Daß sie alles frei erfunden! – Nein, so angesichts des Todes, das ist unmöglich. Erzähle mir, wie es war!«

      »Das hilft ja doch nichts mehr, Tante Helen. Sie werden es mir nicht glauben ... Du hast gelesen, wie mein Vater über mich denkt ...«

      »Das ist geschrieben im ersten Schmerz und Schrecken, Rosmarie. Das Blut kühlt auch wieder ab. Dein Vater, so höflich er ist, kann seinen Zorn haben, so gut wie einer von uns! So wehr dich doch, Rosmarie! Was du verlierst ...«

      »Was ich verloren habe, weiß ich ... Meine Ehre habe ich verloren. Wie kann ich mich verteidigen, wenn Mama und mein Vater das von mir glauben wollen. Kann ich beweisen, daß ich jene Türe nicht geöffnet habe, daß ich Mama nicht vorher mit meinen Augen und Haaren erschrecken wollte! Ihr müßtet mir euer Vertrauen schenken! Ich will kein geschenktes Vertrauen, das man jederzeit wieder zurücknehmen kann, wenn noch einmal die falsche Türe aufspränge ...«

      Die Tante warf sich ganz erschöpft in einen Fauteuil und jammerte: »Gott, ich bin keine Katastrophen mehr gewöhnt! Seit ich ganz aus dem alten Brauneck gezogen ... Ich kann sie nicht mehr ertragen, sie bekommen mir nicht, die Katastrophen ...«

      »Laß mich in mein Zimmer gehen, Tante Helen, ich bitte dich, ich bin müde, müde, – ich ...«

      »Soviel habe ich jetzt doch herausgebracht, Rosmarie, daß du die Sache bestreitest. Ich muß ein Wort an meinen armen Bruder schreiben, heute nacht noch. – Nur noch eins, Rosmarie ... Dein Verhältnis mit deiner Mutter, – ich weiß, es war nie sehr warm, von beiden Seiten nicht; ihr seid Gegensätze ...«

      »Ich hasse sie, hasse, hasse, mein Herz ist ganz ausgebrannt vom Haß! Und Haß tut weh. Ich habe gehaßt in jener Nacht ...« Rosmarie verbarg ihr Gesicht in ihre Hände... »Oh, mein armer Garten! Giftblumen, wilde rote, Dorngeschlinge, Brennesseln. Sie haben mich so weit gebracht, daß er es trägt. Nein, wie darf ich das sagen. Es ist mein Garten! Und wenn Vater da hineinsieht. – Er glaubt, daß ich ehrlos sei, ehrlos ...«

      Prinzessin Helen hat sich erhoben und beugt sich über Rosmarie, die wie zerbrochen über ihrem Stuhl liegt. Ihr rundliches Gesicht zuckt und sieht kläglich, fast kindlich drein in ihrem Schmerz. Endlich schüttelt sie sich zusammen; das in langen Jahren, die auch ihre verschwiegenen Schmerzen gehabt hatten, erworbene Phlegma kommt ihr zu Hilfe.

      »Rosmarie, Kind, geh zu Bett. Du hast die Türe nicht aufmachen wollen, soviel habe ich doch herausgehört. Wenn


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