Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри


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Schleier, weil sie nun schlafen wollen. Und ich bin so müd. Ich muß weinen, ich bin ganz müd. Du, ich hab mich überfreut!«

      »Überfreut hast du dich?«

      »Weißt du, wenn man so starke Freude hat, das tut doch weh.«

      »Seelchen, komm, wir müssen eilen, ich trage dich.«

      Er reißt sich das Lodenwams herunter, daß er in seinen weißen Hemdärmeln dasteht, und wickelt sie darin ein und nimmt sie auf seine starken Arme.

      »Kannst du denn kein kleines Mädchen in deiner Ruine brauchen, ich esse nicht viel. Du mußt aber niemand herein lassen, daß man mich nicht sieht. Denn sonst holen sie mich. Weil die mich haben müssen, wenn ich auch nur ein Mädchen bin und es ein Jammer ist, daß die Mutter nicht mich mitgenommen hat und das Brüderlein leben geblieben ist.« »Die müssen dich haben!« Er schaut auf das weiße Gesichtchen, das in seinem Goldgewoge auf seiner Schulter liegt. – Die seinen Linien der Nase, die ein wenig zu großen Augen: das Rassegesicht – – der Braunecker. – –

      »Prinzessin! Ja, um Gotteswillen! Wie lang sind Sie schon fort! Ja, sucht denn kein Mensch nach Ihnen?«

      »Ja, warum sagst du denn nun Sie. – Dann muß ich's auch sagen. Ich hab kein Du, kein einziges Du, wenn Vater fort ist.«

      Armes Prinzeßchen, armes einsames Seelchen, das er nun in seinen Käfig zurückbringen muß. So vertrauensvoll schlingt sich das Ärmchen um seinen Hals, während er mit langen Schritten dahineilt. Wohl wußte er, daß in dem alten Schloß, das mit seinen dicken Türmen in das lieblichste Tal hinabsieht, das einzige Töchterlein des Fürsten wohnt, der nur zu den hohen Festen und den Jagden nach seinem alten Stammsitz zurückkehrt. Aber es war von dem Kinde immer nur mit einem gewissen Achselzucken die Rede gewesen, so daß er sich ein vielleicht schwachsinniges Geschöpf vorgestellt hatte, das in seinem armen Dasein die bitterste Enttäuschung des alten Hauses sei. Die Fürstin und zwei Söhnlein, ein dreijähriges und ein wenige Tage altes, waren vor zehn Jahren innerhalb einer Woche an einer schweren Diphtherie gestorben. Geheiratet hatte der Fürst bis jetzt nicht wieder, und doch würde es sein müssen, denn der alte Stamm stand nur auf seinen zwei Augen. Aber warum wimmelt jetzt der Wald nicht von Jägern und Hunden, warum ertönen die Sturmglocken aus den Dorfkirchen nicht, wie man es immer tut, wenn irgendein Kind, das vielleicht seinem Vater das Essen in den Schlag gebracht hat, nicht zurückgekehrt ist. Seelchen, warum suchen sie denn nicht! Drei Stunden weit ist sie freilich gegangen, und das mochte ihr niemand zugetraut haben. Und mit Schrecken dachte er, wie es wohl gekommen wäre, wenn es ihn nicht in den Wald gezogen hätte heute, ob nicht sein einsames Herz von der Herrlichkeit da draußen so erfüllt werden könne, daß es den bitteren Hunger nach einer einzigen menschlichen Seele vergäße.

      »Schläfst du, Seelchen?«

      »Nein, es ist so schön, weil du mich trägst, und du bringst mich doch zu deiner Ruine! Wie das Schneewittchen über den sieben Bergen. Du bist freilich kein Zwerg, sondern schier ein Riese, und du kannst auf alle heruntergucken, und so lang will ich auch wachsen. Und stark bist du und brauchst dich im Dunkeln nicht zu fürchten.«

      »Vielleicht fürcht ich mich doch.«

      »Jetzt?«

      »Nein, jetzt nicht. Aber soll dein Vater kein Kind mehr haben?«

      »Du hast auch keins.«

      »Jedes Kind bleibt bei seinem Vater.«

      »So muß ich zurück! O sag's nicht. Ich will nicht. Ich bleibe da, und wenn auch die Bäume noch so schrecklich sind in ihren weißen Tüchern. So sind gewiß tote Leute, so steif und mit weißen Tüchern. O das träumt mir, das träumt mir. Aber ich bleibe hier. Nun haben sie alle einen Zorn und alle reden zugleich, und ihre Stimmen sägen und ich darf meine Ohren nicht zuhalten. Und das Tuch hab ich ganz zerfetzt.«

      »Wie du reden kannst, Seelchen, und du meinst, du habest die rechten Worte nicht! Warum sagst du das nicht deinem Vater, deinem lieben Vater!«

      »Wann denn? Ich muß immer so artig sein, wenn er da ist. Und das mußt du doch wissen, daß es nicht artig ist, wenn man sich über Miß Whart verjammert.«

      »Seelchen, dein Deutsch ist wunderbar, ganz dein eigen. Und du sprichst wohl englisch mit der einen und französisch mit der anderen?«

      »Mademoiselle ist nach Anvers in die Ferien, und Miß Whart hat Migräne, und Fräulein Braun – aber das ist ein großes Geheimnis, ich sag dir's nur, weil du's nicht weitertratschest, – sie ist zu Karl gegangen.« »So, zu Karl.«

      »Der heiratet sie gewiß einmal, und dann kauft sie sich ein Plüschsofa. Daß sie sich nicht schämen muß, wenn die andern Frauen bei ihr Visite machen. Und das muß jeder anständige Mensch haben.«

      Aber sie erschrickt in tiefster Seele, denn er hat gewiß kein Plüschsofa. Und es könnte ihm weh getan haben. Und sie küßt ihn schnell auf sein Ohr, das ist am nächsten und ist auch nicht so bärtig. »Ich meine nur Frauen, weißt du.«

      »Laß das, Seelchen,« sagt er fast streng, »und sag, wie du fortgekommen bist: sie wird dich doch nicht zu dem Karl genommen haben.«

      Ach, nun hat er es doch übel genommen und er hat sicher kein Plüschsofa.

      »Nein,« erzählt sie gang verschüchtert weiter, »die Babett sollte mit mir spielen, aber zu der kam ihre Mutter, die wohnt weit weg, und die weinte und erzählte viel, es kam eine Kuh und ein Jude darin vor. Wie die Leute reden, das versteh ich nicht so recht. Und darf's auch nicht lernen, sagt Fräulein Braun: Es ist gemein.«

      Es klingt, wie wenn er etwas brummte, – wie ›dumme Gans!‹ klingt's.

      »Nun weiter!«

      »Da ging die Babett und wollte der Mutter etwas bringen, das in einem Buche ist, wo man Geld dafür bekommt, und es war eine große Freude dabei. Für die Mutter, nicht für die Babett. Und die Mutter ging und ihr Tuch ließ sie da. Und da war's, wie wenn mich etwas packte und nach dem Tuch hinzöge. Und da wickelte ich mich darin ein, wie's die Waschfrauen machen, wenn sie im Regen kommen. Eine Gamasche hab ich nur angebracht, dann hab ich Angst bekommen und bin schnell die Dienertreppe hinunter. Und es begegnete mir niemand. Dann bin ich durch den Park gegangen, und ein Gärtner hat mir ›Vogelscheuche‹ nachgerufen, dann kam ich ans Wach. Es war aber keine Brücke da, so bin ich übers Eis gegangen.« »über das Wach gegangen!«

      »Es war ganz schön. Das Wasser lief unten, und es gluckste, und es lachte einer heimlich da unten, und ein Fisch schoß vorbei, und ein großes Loch war auch da, um das ging ich herum ...«

      So, nun weiß er, warum niemand hier suchen geht. Das Wach ist nur ganz dünn gefroren und hat Stellen, an denen unterirdische Quellen aus dem Boden kommen, wo auch im härtesten Winter das Eis nicht tragt. Und er möchte an einen Engel glauben können, der das Kind auf dem Todespfad geleitet hat. Und er sieht im Geist das Flüßchen zwischen seinem Wald und den Wiesenufern, unter der trügerischen Eisdecke, und die vielen Männer, die jetzt mit Fackeln und Stangen nach einem kleinen, halb erstarrten Körper suchen. Und der Fürst muß heute abend kommen. Mit dem Achtuhrzug. Und die müssen ihn mit der schrecklichen Nachricht empfangen. Und der Mann, der schon so viel verloren hat, was muß er leiden an diesem fürchterlichen heiligen Abend. Mit seinen längsten Schritten eilt er dahin. Aber es ist eine Stunde in der Nebelnacht bis zu seiner Ruine, von der aus er erst Nachricht geben kann. Das zarte Kind muß bald unter ein Obdach kommen. Und dem Fürsten wird es auch so lieber sein, als wenn er seine Tochter aus einer Bauernstube abholen muß. Der Pfarrherr ist unbeweibt, wunderlich und menschenscheu, studiert jetzt seine Predigt, wird gar nicht wissen, was er mit dem hereingeschneiten Gast tun soll. Und der Nebel schließt sie immer dichter ein. Kennte er nicht jeden Tritt hier, so wäre es schlimm bestellt ums Heimkommen. Und er macht sich bittere Vorwürfe, daß er nicht gleich geeilt hatte.

      Aber das Kind will jetzt von ihm wissen, so viel, so viel. Mit dem sicheren Instinkt der Kinder hat sie herausgefühlt, daß sie einen Freund gefunden hat.

      »Warum wohnst du in einer Ruine, warum bist du so arm? Bist du auch das Christkind suchen gegangen?«

      Und


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