Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг

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wußte, daß er ohne weiteres als Tempelschänder hinausgewiesen würde, sobald man ihn entdeckte, und beeilte sich daher mit seiner Untersuchung. Er hatte sich einigermaßen in der Hoffnung gewiegt, bei der Nachlässigkeit dieses Volks könnte das Naulahka in irgend einem Winkel liegen geblieben sein, wie der Schmuck einer Dame auf dem Ankleidetisch, wenn sie spät vom Ball heimkommt. Er sah sich daher hinter und unter jedem Götzenbild danach um, während die Fledermäuse über seinem Haupt ungestört quieksten. Dann kehrte er wieder in die Mitte des Tempels zurück und pflanzte sich in seiner gewohnten Haltung vor dem Gotte Isvara auf.

      Mit einemmal fühlte er, daß sein Körpergewicht, trotzdem er auf vollständig ebenem Grund stand, ausschließlich auf den Zehenspitzen ruhte, und er trat ein paar Schritte zurück, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Nun drehte sich die Sandsteinplatte, worauf er eben noch gestanden hatte, langsam, wie eine Schildkröte sich in stillem Wasser wälzt, und für einen Augenblick eröffnete sich der Einblick in einen gähnenden schwarzen Schlund. Vollkommen lautlos legte sich die Platte wieder an ihre alte Stelle, Tarvin aber mußte sich kalte Schweißtropfen von der Stirne wischen. Wenn er in diesem Augenblick das Naulahka irgendwo entdeckt hätte, er würde es in seiner Wut mit den Füßen zerstampft haben. Als er rasch in den heißen klaren Sonnenschein hinaustrat, weihte er in seinen Gedanken dieses Land seinen eigenen Göttern; eine schlimmere Verwünschung konnte er nicht ersinnen.

      Unmittelbar nachdem er dem Tempel den Rücken gekehrt hatte, sprang ein Priester aus einem unentdeckbaren Hinterhalt hervor und sah ihm lächelnd nach.

      Mit dem Bedürfnis, wieder festen Fuß zu fassen in einer vernunftgemäßen Welt, wo es Häuslichkeit und Frauen gab, ging er sofort ins Missionshaus und lud sich selbst zum Frühstück ein. Herr und Frau Estes hatten sich grundsätzlich von der ganzen Hochzeitsfestlichkeit ferngehalten, aber sie vom amerikanischen Standpunkt aus schildern zu hören, belustigte sie sehr. Käte machte kein Hehl daraus, daß ihr Tarvins Erscheinen eine Freude war. Ihr Herz war voll heiligen Zorns über die Pflichtvergessenheit Dhunpat Rajs und des gesamten Wartepersonals – die ganze Gesellschaft war einfach den Festlichkeiten nachgelaufen und hatte sich volle drei Tage nicht im Spital blicken lassen. Sie und jene Frau aus der Wüste, die nicht von ihrem »unheilbar geisteskranken« Manne wich, hatten die ganze Arbeit allein verrichten müssen. Käte war demnach sehr erschöpft und obendrein voll Sorge um die Wohlfahrt des Maharadscha Kunwar.

      »Ich bin überzeugt, daß er jetzt unbedingte Ruhe nötig hätte,« sagte sie fast mit Thränen zu Tarvin, als die beiden nach dem Frühstück auf die Veranda traten. »Gestern abend war ich im Palast, und da kam er nach dem Bankett zu mir und weinte wohl eine halbe Stunde bitterlich, der arme kleine Kerl! Natürlich Nervenüberreizung, es ist eine Grausamkeit!«

      »Nun, heute kann er ja den ganzen Tag schlafen, dann gibt sich’s wieder.«

      »O nein, heute wird die Braut in ihre Heimat zurückgebracht, und er muß ihr das Geleite geben, ich weiß gar nicht wie weit, und in dieser Sonne! Das ist ganz abscheulich! Macht dir eigentlich die Sonne keine Kopfschmerzen, Nick? Ich muß manchmal dran denken, wenn du draußen bist an deinem Damm und wundre mich, daß du’s aushältst.«

      »Ich halte viel aus um deinetwegen, kleines Mädchen,« erwiderte er, ihr tief in die Augen blickend.

      »Um meinetwillen, Nick? Was nützt mir der Damm?«

      »Das wirst du schon erfahren, wenn du lang genug lebst,« sagte Tarvin ablenkend, denn von seinem Damm sprach er nicht gern; der kleine Prinz war ein sichereres Gebiet.

      In den nächsten Tagen ritt er ziemlich planlos in der Umgebung des Tempels herum; hinein wagte er sich nicht mehr, aber im Auge behalten wollte er die Stätte, wo er das Naulahka ein erstes, vielleicht ja auch ein letztes Mal gesehen hatte. Mit dem einzigen lebenden Wesen außer dem König, von dem er nun gewiß wußte, daß seine Hand das Halsband berührt hatte, konnte er ja nicht verkehren, und die Ungeduld, womit er den Maharadscha Kunwar von seinem Brautgeleite zurückerwartete, machte ihn beinahe toll. Er hoffte viel von diesem Wiedersehen und beschwichtigte seine Ungeduld durch häufige Besuche im Spital, wo er nachsah, ob Käte sich auch nicht zu viel zumute. Der pflichtgetreue Arzt hatte sich allerdings nach dem Fest samt seinem Personal wieder eingefunden, aber das Haus war überfüllt mit Gästen aus den entlegensten Teilen des Landes. Meist handelte es sich um Knochenbrüche und andre durch Rosseshufe und Wagenräder verursachte Schäden und ein paar für Käte sehr beunruhigende Fälle von Männern, die unter dem Deckmantel der Freundlichkeit mit Betäubungsmitteln eingeschläfert, ihres Reisegelds beraubt und hilflos auf die Straße geworfen worden waren.

      Wenn Tarvins Späherblick die tadellos gehaltene Männerabteilung wieder einmal durchforscht hatte, gestand er sich selbst freimütig, daß Käte in Rhatore weit bessere Geschäfte mache als er selbst. Sie betrieb ihre Spitalverwaltung doch nicht als Vorwand für tiefere und minder reine Absichten, und sie genoß den unschätzbaren Vorteil, einem greifbaren, erreichbaren Ziel zuzusteuern. Dieses Ziel verschwand nicht, nachdem es ein einziges Mal wie ein Irrlicht aufgefunkelt hatte, es lag nicht in den Händen einer in Geheimnisse gehüllten Priesterschaft, einer undurchdringlich verhüllten Staatsgewalt. Man konnte es nicht verstecken in Tempeln mit verräterischen Versenkungen, nicht entschwindenden Kindern um den Hals hängen.

      Eines Morgens, noch vor der Zeit, wo er gewöhnlich zum Fluß hinausritt, erhielt Tarvin im Rasthaus ein Briefchen, worin Käte ihn dringend bat, spornstreichs zu ihr ins Spital zu kommen. Eines Pulsschlags Dauer spiegelte ihm seine Phantasie Unmögliches vor, dann verlachte er seine eigene Hoffnungsseligkeit, steckte sich eine Cigarre an und gehorchte dem Befehl.

      Käte kam ihm auf den äußeren Stufen entgegen und führte ihn in die Apotheke.

      »Verstehst du dich auf die Symptome der Hanfblättervergiftung?« fragte sie, ihm im Eifer die Hand auf den Arm legend.

      Mit einem raschen Griff bemächtigte er sich ihrer beiden Hände und starrte ihr entsetzt ins Gesicht.

      »Wieso? Warum? Hat man gewagt …«

      Sie lachte aufgeregt.

      »Nein, nein, Nick … nicht ich … er …«

      »Wer?«

      »Der Maharadscha, das Kind. Ich bin meiner Sache jetzt ganz sicher.«

      Und nun erzählte sie in fliegender Hast, daß heute früh die Staatskarosse samt der Leibwache vors Missionshaus gekommen sei und ein pomphaft herausgeputzter Eingeborener die beinahe leblose Gestalt des Maharadscha Kunwar auf den Armen hereingetragen habe. Anfangs habe sie den Zustand einfach auf Erschöpfung durch die Festlichkeiten zurückgeführt, dann aber sei der Knabe mit blauen Lippen und hohlen Augen aus der Betäubung erwacht und derart von Krämpfen und Zuckungen befallen worden, daß es zum Verzweifeln gewesen sei. Endlich sei er aus reiner Erschöpfung eingeschlafen, und sie habe ihn für eine Stunde der Obhut von Frau Estes anvertrauen können. Sie berichtete, daß Frau Estes, die früher schon Krampfzufälle bei ihm mitangesehen hatte, der Meinung sei, es handle sich um eine Wiederholung des alten Leidens.

      »Jetzt sieh dir aber das an,« sagte Käte, ihm ihr Tagebuch über die Fälle im Spital hinreichend, worin sie die zwei Fälle von Betäubung durch die sogenannten »Majuns«, die in der letzten Woche vorgekommen waren, genau aufgezeichnet und beschrieben hatte.

      »Diese Leute,« erklärte sie, »haben von einem Trupp wandernder Zigeuner Zuckerwerk bekommen, und sie sind nicht eher erwacht, als bis die Bande sie all ihres Gelds beraubt hatte. Nun lies, bitte, die Symptome.«

      Tarvin las, an seinem Schnurrbart kauend, dann sah er Käte forschend an.

      »Ja,« sagte er, bedeutungsvoll mit dem Kopf nickend. »Das stimmt. Sitabhai?«

      »Wer sonst würde das wagen?« erwiderte Käte leidenschaftlich.

      »Ich weiß. Ich weiß. Aber wie ihr beikommen, wie der Sache ein Ende machen?«

      »Der Maharadscha muß die Wahrheit erfahren,« erklärte Käte mit Entschiedenheit.

      Tarvin ergriff ihre Hand.

      »Gut! Den Versuch will ich machen. Aber du weißt, daß ich auch nicht den leisesten


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