Heimische Exoten. Mareike Milde
es einige Küken, unbesehen und ohne menschliche Fürsorge aufzuwachsen, und damit stellte sich irgendwann heraus, dass Flamingos uns so gar nicht brauchen und scheinbar sehr, sehr witterungsfest sind. Tatsächlich suchen sie auch in den vermeintlich wärmenden Breitengraden immer wieder kühle Gegenden auf, wie zum Beispiel den Titicacasee auf der peruanischen Hochebene Altiplano, wo Temperaturschwankungen von +15 °C bis –30 °C vorkommen.
Nachdem also ab 1983 die ersten Chileflamingos sesshaft wurden, stießen 1986 noch einige Rosaflamingos hinzu. 1994 wurde die Truppe noch um einen Kubaflamingo ergänzt, und alle Flamingoarten verstanden sich untereinander so prächtig, dass sie neben der gemeinsamen Winter- und Sommerresidenz auch ihren Genpool teilten und sogenannte Hybride zeugten, also Kreuzungen aus Chile- und Rosaflamingos oder Kuba- und Rosaflamingos. 2006 kamen noch einzelne Zwergflamingos hinzu, die bis heute allerdings noch nicht gebrütet haben. Und während es bei den Kuba- und Chileflamingos als sicher gilt, dass sie Gefangenschaftsflüchtlinge aus benachbarten Tiergehegen oder Zoos sind, tappt man bei den Rosa- und Zwergflamingos im Dunkeln, was ihre Herkunft anbelangt. Ohnehin bleibt die Frage: Ahnten die über die Jahre nachkommenden Flamingos, dass es hier schon eine Kolonie von Artgenossen gibt, oder handelt es sich um einen äußerst großen Zufall, dass sich alle hier ansammeln? Hundertprozentig sicher ist man sich in der Biologischen Station bis heute nicht, und so wird es wohl für immer ein Mysterium bleiben. Übrigens sind Flamingos und Fische Nahrungskonkurrenten und treten nicht zusammen auf: Keine Fische, wenn Flamingos da sind, und keine Flamingos, wenn schon Fische die Gewässer bevölkern. Wer zuerst da ist, hat gewonnen. Hierbei handelt es sich um eine friedliche Besetzung; einige andere Wesen könnten sich davon ein großes Scheibchen Plankton abschneiden.
Flamingos leben übrigens nicht nur in flachen Süßwasserseen, sondern können auch in sehr alkalischen und salzigen Seen vorkommen. Kaum ein anderes Wirbeltier ist dazu in der Lage – ehrlicherweise kennen wir sogar gar keine, wollen uns aber auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn vielleicht versteckt sich das eine oder andere Wirbeltier tatsächlich noch irgendwo dort und wir wissen bislang einfach nur nichts davon.
Mittlerweile sind wir auf einem der Hochplateaus angekommen. Von hier aus können wir mit bloßem Auge und ganz, ganz weit entfernt ein paar Flamingos und viele, viele Lachmöwen auf einer kleinen Insel im Naturparksee beobachten. Einer der Flamingos schwimmt sogar, denn schwimmen können sie so richtig gut, eigentlich besser noch als fliegen, wofür sie erst irre weit Anlauf nehmen müssen. Aber am liebsten stehen sie einfach auf einem ihrer Klappbeine herum und halten Ausschau nach Nahrung. Sicher auch dank ihrer energieschonenden Haltung können Flamingos in freier Wildbahn bis zu 25 Jahre alt werden, in Gefangenschaft sogar noch älter: 2014 musste Flamingo-Methusalem »Greater« im australischen Adelaide mit biblischen 82 Jahren eingeschläfert werden. Eine Krankheit hatte er nicht, aber seine Lebenskräfte schwanden doch unwiderruflich. Der älteste deutsche Flamingo heißt übrigens Ingo und lebt im Berliner Zoo. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses Buches wird er 72 Jahre alt sein und hoffentlich noch lange gesund und munter unter uns weilen.
Im Gegensatz zu vielen anderen exotischen Einwanderern ist die Stimmung den Flamingos gegenüber in Deutschland durchweg positiv. Ein bisschen ungerecht ist das schon. In Südfrankreich und Spanien haben die Flamingos nicht so viele Fans: Hier laben sich freie Kolonien gerne an frisch sprießenden Reisfeldern, weswegen so mancher Bauer gar nicht gut auf die Vögel zu sprechen ist. Im Zwillbrocker Venn sorgen die Flamingos für einen zusätzlichen Besucheranreiz, also profitiert auch der Standort und die Parkarbeit davon und sie verdrängen keine heimischen Arten.
Die Kinder beginnen zu drängeln und werden hungrig, die Tour ist nun zu Ende. Schweren Herzens nehme ich mein Fernglas herunter und verlasse den Hochstand. Zum Abschluss gibt es noch ein Eis, dieses Kapitel ist hiermit zu Ende.
Dabei könnte ich noch so viel mehr über diese farbenprächtigen Tiere schreiben: über ihren wundersamen Bruttanz, ihr friedliches, artenübergreifendes Miteinander und die geheime Flamingosprache, mithilfe derer sie sich untereinander – über alle Flamingoarten hinweg – verständigen können. Sie sind eben doch so viel mehr als nur dösige Standvögel, diese sozialen Wesen aus einer pastelligen, gar nicht so fremden Welt.
Auf der Suche nach dem Gelben Drachenwels in Niederbayern
Am frühen Morgen treffe ich in Regensburg ein. Ich war noch niemals hier, ich bin gespannt. Regensburg liegt im Mündungsbereich der Flüsse Naab und Regen und obwohl sie mit rund 150 000 Einwohnern eine Großstadt ist, wirkt sie mit ihren zwei Donauinseln wie ein verzauberter Märchenort. Die Historie dieser Stadt bzw. die Besiedlung dieses Landstriches kann man bis ins Jahr 5000 vor Christus nachverfolgen.
Seit 2006 gehören Teile der Altstadt mit ihren prächtig erhaltenen Bauwerken zum UNESCO-Welterbe. Hier lebte ein Papst, hier singen die Domspatzen, und auch der bayerischste Urbayer Franz Josef Strauß … na gut, ich möchte Sie nicht mit »ollen Kamellen« langweilen.
Schon nach den ersten Schritten durch die Straßen überkommt mich ein heimeliges Gefühl. Die Gassen der Altstadt könnten einem Puppenspiel entstammen, viele Menschen tragen Dirndl und Lederhosen, überall hört man bayerischen Dialekt, die Leute lächeln freundlich, Asiatengrüppchen drängeln sich mit ihren Kameras durch die Gassen. Es ist Anfang Juni, die Sonne strahlt, ein paar winzige Schäfchenwolken kriechen gemächlich über den blitzeblanken Himmel. Mir scheint, in Regensburg könnte die Stimmung niemals trüb werden. Das Volksfest Maidult habe ich knapp verpasst, seit gestern wird hier abgebaut. Das macht mir nichts, die Stimmung könnte nicht besser sein.
Michael Härtl empfängt mich am Bahnhof und wir schlendern gemeinsam durch die Gassen, hin zur weltberühmten Steinernen Brücke mitsamt angrenzendem Biergarten.
Die Blaskapelle spielt einen Tusch, wir bestellen Radler, Michael zeigt mir auf seinem Tablet viele Bilder von Fischen; überall herrscht gute Laune. Michael ist leidenschaftlicher Amateurbiologe und seit Kindheitstagen Angler, nun schon in der dritten Generation. Er war es, der 2009 als Erster die Nackthalsgrundel, eine Schwester der Schwarzmundgrundel, der wir uns etwas später noch widmen werden, in einem Donaualtarm klassifiziert hat. Und er war es, der letztes Jahr mit dem Berufsfischer Michael Höllein den neuen tierischen Zugezogenen aufgefunden hatte, der medial für einiges Aufsehen sorgte und wegen dem ich nun hier bin.
Die Rede ist vom Gelben Drachenwels, der erstmals im Mai 2018 in der Donau als Tachysurus fulvidraco identifiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er natürlich noch gar keinen deutschen Namen. Als gefangener Fisch in der deutschen Wildnis musste somit flugs eine Bezeichnung her, und da fulvidraco auf Deutsch ›Gelber Drache‹ bedeutet, war diese schnell gefunden. Mit etwas Fantasie und zusammengekniffenen Augen sieht er ja auch fast so aus wie der Drache Fuchur aus Michael Endes Die Unendliche Geschichte. Überregional regierten noch andere Assoziationen: Yellow catfish oder Korean bullhead lauten seine Namen in anderen Ländern. Eigentlich ist der Drachenwels nämlich in Korea, Vietnam, China und Sibirien beheimatet. Und seit dem Jahr 2018 auch zwischen Straubing und Regensburg.
Im Zeitraum von Ende Mai bis Anfang Juni herrscht Laichzeit, dann legen die Männchen in stillen Flussarmen Gruben am Boden an, in die die Weibchen ablaichen können. Das Männchen betreibt die Brutpflege und bleibt noch eine Weile vor Ort, bis die Larven geschlüpft sind und sich alleine fortbewegen können. In dieser Zeit sind die Herren so auf ihre Kinder fokussiert, dass sie keine Augen für alltägliche Gefahren wie Fischreusen, die Fangnetze der Fischer, haben. Und falls die Laichzeit nicht durch die zwei sehr heißen Wochen im April vorgezogen wurde, stehen die Chancen gut, heute einen Drachenwels »persönlich« anzutreffen. Wenn nicht, war mein Ausflug wohl umsonst.
Wir trinken aus und fahren zu einem der Donaualtarme unterhalb der kleinen Ortschaft Frengkofen. Hier treffen wir nun auch auf Michael Höllein von der Fischerei Maier. Mit beiden Michaels steige ich in ein sehr langes, hölzernes Fischerboot, welches mich an eine venezianische Gondel erinnert. Unter dem lauten Röhren des Benzinmotors schippern wir damit über den Altarm und wollen einen Blick in die dort von Maier ausgelegten Fischreusen werfen.
Als die ersten Einzelfunde