Dracula. Bram Stoker

Dracula - Bram Stoker


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so schreckliche Angst um mich? Warum gab man mir Kruzifix, Knoblauch, wilde Rosen und Eschenzweige mit? Gesegnet sei die liebe, gute Frau, die mir das Kruzifix um den Hals hängte! Denn wenn mir Mut und Kraft zu schwinden drohen, brauche ich es nur zu berühren, und ich fühle mich sicherer. Seltsam; da hat man uns beigebracht, dergleichen verächtlich als Götzendienst abzutun, und nun, in Einsamkeit und Not, bringt gerade solch ein Gegenstand mir Erleichterung. Liegt dies wohl im Wesen des Gegenstandes selbst? Oder ist es vielmehr eine Art Medium, ein Hilfsmittel, greif- und tastbar, dessen Wirkung darauf beruht, dass es Erinnerungen an Menschen weckt, die uns freundlich Trost spendeten? Der Frage möchte ich unbedingt einmal nachgehen – sofern mir noch Gelegenheit dazu bleibt. Bis dahin aber hat anderes Vorrang. Ich muss so viel wie irgend möglich über den Grafen herausfinden; denn nur dann habe ich eine Chance zu verstehen, was sich hier tut. Vielleicht erzählt er heute abend selbst einiges von sich, wenn ich die Konversation geschickt in diese Richtung lenke. Doch höchste Vorsicht bleibt geboten, denn er darf keinen Argwohn schöpfen.

      Mitternacht. – Ausgedehnte Plauderei mit dem Grafen. Ich stellte ihm diverse Fragen zur Geschichte Transsilvaniens – ein Thema, das ihn erstaunlich auftauen ließ. Seine Berichte von bestimmten historischen Personen und Ereignissen klangen, als wäre er seinerzeit immer dabei gewesen; besonders plastisch gelang ihm die Schilderung von Schlachten. Der Graf erklärte dies so: Für einen Bojaren ist der Stolz seiner Ahnen sein eigener Stolz; ihr Ruhm ist sein Ruhm, ihr Schicksal ist sein Schicksal. Sprach er von seiner Familie, sagte er stets »wir« und benutzte den Plural, wie Könige zu tun pflegen. Gern würde ich, was er darbot, exakt in seinen Worten hinschreiben, denn ich fand es faszinierend. Es war, als rollte er die gesamte Geschichte seines Landes vor mir aus. Während des Redens geriet er mehr und mehr in Wallung. Er zerrte an seinem dicken weißen Schnurrbart, packte mit seinen mächtigen Händen bald diesen, bald jenen Gegenstand und zerdrückte ihn fast. Eine Stelle seiner Ausführungen will ich aber hier möglichst getreu wiedergeben, denn sie erzählt auf besonders kennzeichnende Art den Werdegang seines Volkes:

      »Wir Szekler haben alles Recht der Welt, stolz zu sein. Denn in unseren Adern fließt das Blut vieler tapferer Völker, die den gleichen Kampf kämpfen wie der Löwe im Tierreich – den um die Herrschaft. Seit Jahrhunderten zieht unsere Gegend die europäischen Völker gleich einem Strudel an und wirbelt sie durcheinander. In dieses Gewirr brachten die ugrischen Stämme von Island her den Kampfgeist, welchen Thor und Wotan ihnen verliehen hatten. Den bewies ihre Vorhut, die berüchtigten Berserker, an den Küsten Europas, ja auch Asiens und Afrikas derart eindrucksvoll, dass die Leute glaubten, da komme eine Horde Werwölfe. Als sie dann hierher gelangten, stießen sie auf die Hunnen, deren wilde Kriegslust wie eine lebendige Flamme über die Erde hinweggefegt war. Die sterbenden Stämme glaubten, die Hunnen müssten doch wohl Nachfahren jener alten Hexen sein, die sich einst, aus Skythien vertrieben, mit den Teufeln in der Wüste paarten. Diese Narren, diese Narren! Welcher Teufel oder welche Hexe war je so mächtig wie Attila, dessen Blut in diesen Adern kreist?« Er reckte die Arme empor. »Ist es bei solchen Ahnen ein Wunder, dass wir ein Stamm von Eroberern wurden, ein stolzer Stamm? Ist es merkwürdig, dass wir die Magyaren, die Lombarden, die Aaren, die Bulgaren und die Türken zurücktrieben, als sie zu Tausenden über unsere Grenzen strömten? Ist es erstaunlich, dass, als Árpád und seine magyarischen Legionen das heutige Ungarn besetzten, seine große Landnahme, die Honfoglaglás, hier an der Grenze ein Ende fand, wo sie uns begegneten? Als die Ungarnflut sich dann nach Osten wandte, erkannten die siegreichen Magyaren in den Szeklern – aufgrund einiger Gemeinsamkeiten hinsichtlich Ursprung und Sprache – eine verwandte Rasse und vertrauten uns über Jahrhunderte den Schutz der Grenze zum Türkenreich an. Fürwahr, ein schwerer, endloser Dienst, denn wie sagt der Türke: ›Das Wasser schläft, aber der Feind nie.‹ Welches unter den vier Völkern in unserem Gebiet empfing freudiger das ›blutige Schwert‹ oder scharte sich eiliger hinter des Königs Fahnen? Wann wurde die große Schmach unserer Nation getilgt, die schändliche Niederlage auf dem Amselfeld, wo die Banner der Wallachen und Magyaren vor dem Halbmond in den Staub sanken? Und wer hat dies vollbracht? Ein Mann aus meinem Geschlecht, Woiwode seinerzeit, der die Donau überschritt und die Türken auf ihrem eigenen Boden schlug – ein Dracula! Leider hatte er einen unwürdigen Bruder, der, kaum war er gefallen, sein Volk an die Türken verkaufte, wodurch er es in schmachvolle Knechtschaft brachte! Jedoch beflügelte der erste, der tapfere Dracula, einen bedeutsamen späteren dieses Namens zu großer Tat. Immer und immer wieder fiel er über den großen Strom ins Türkenland ein, wurde zurückgetrieben, versuchte es erneut, kehrte einmal gar als einziger heim aus der blutigen Metzelei, in der all seine Leute den Tod gefunden hatten, und kam doch wieder, weil er wusste, dass nur er letztlich den Sieg würde erzwingen können! Nun behaupten manche, ihm sei es nur um die eigene Macht gegangen. Pah! Was taugen denn Bauern ohne einen Führer? Wie soll ein Krieg ein gutes Ende finden, wenn Hirn und Herz fehlen, ihn zu leiten? Und dann, als unser Stamm nach der Schlacht von Mohács das magyarische Joch abschüttelte, standen wir aus dem Geblüte Dracula wieder in den ersten Reihen. Unser stolzer Geist litt es nicht, dass Ungarn uns die Freiheit vorenthielt. Ja, junger Herr, die Draculas als Herzblut, Hirn und Schwert der Szekler können mit einer Vergangenheit prangen, auf die Emporkömmlinge wie die Habsburger und die Romanows niemals werden zurückblicken können. Allein die kriegerischen Zeiten sind vorbei. Blut ist in diesen Zeiten ehrlosen Friedens ein zu kostbar Ding, und die ruhmreiche Geschichte alter Geschlechter klingt nur noch wie ein Märchen.«

      Unterdessen war schon fast wieder Morgen, und so gingen wir zu Bett. (NB: Meine Notizen erinnern erschreckend an Tausendundeine Nacht, wo die Erzählerin auch immer abbricht, wenn der Tag kommt, oder an den Geist von Hamlets Vater, der beim ersten Hahnenschrei verschwinden muss.)

      12. Mai. – Ich will mit Tatsachen beginnen, bloßen Tatsachen, mit reinen Gegebenheiten und nüchternen Zahlen, die dokumentarisch belegt und deshalb nicht in Zweifel zu ziehen sind. Ich muss sie scharf von allem Subjektiven trennen, von Dingen, die ich selbst erfahren und beobachtet habe oder an die ich mich erinnere. Gestern abend also kam der Graf aus seinem Zimmer und stellte mir gleich jede Menge Fragen. Sie betrafen rechtliche Angelegenheiten; besonders interessierte ihn, welche Schritte bei der Abwicklung bestimmter Geschäfte zu beachten seien. Nun war ich ziemlich erschöpft, denn ich hatte den ganzen Tag über den Büchern gehockt. Ich wollte unbedingt meinen Geist beschäftigen, und da war mir die Idee gekommen, einfach ein paar der Themen meines letzten Examens vor der Anwaltskammer zu repetieren. Es lag eine gewisse Methode in den Fragen des Grafen. Daher möchte ich sie hier möglichst der Reihe nach wiedergeben. Vielleicht sind mir diese Aufzeichnungen irgendwie oder irgendwann einmal von Nutzen.

      Zuerst fragte er mich, ob man sich in England statt einem auch zwei oder mehr Anwälte nehmen dürfe. Ich antwortete, er könne ein ganzes Dutzend engagieren, wenn er wolle. Es wäre aber nicht sehr klug, mehr als einen Anwalt mit einem Geschäft zu befassen, denn es könne doch immer nur einer zur Zeit handeln, und ständig von einem zum anderen zu wechseln würde einen Wirrwarr schaffen, der seinen Interessen heftig zuwiderliefe. Er verstand dies durchaus, schien mir, und schob gleich die nächste Frage hinterdrein. Gesetzt den Fall, er betraute einen Anwalt am Ort A mit Banksachen, und dann ergäbe sich die Notwendigkeit eines Eingreifens am Ort B, einer Hafenstadt etwa, die weit vom Ort A entfernt liegt. Da wäre es doch sinnvoll, man bestellte am Ort B einen zweiten Anwalt, möglichst einen, der in Schifffahrtssachen Bescheid wüsste. Ob das wohl ginge? Ich bat ihn, sich näher zu erklären, schon um zu vermeiden, dass ich ihm falsch riete, und er antwortete: »So lassen Sie mich denn erläutern. Da kauft also unser gemeinsamer Freund Peter Hawkins durch Ihre gütige Beihilfe für mich ein Grundstück. Nun steht die Kanzlei des Mr. Hawkins jedoch im Schatten Ihrer wunderschönen Kathedrale zu Exeter, mein neuer Besitz aber befindet sich fern von dort in London. Es mag Sie befremden, dass ich einen derart entlegenen Sachwalter beauftragte statt einen in London selbst. Wohlan, ich werde Ihnen offen sagen, warum ich so verfuhr. Ich wollte, dass alles einzig nach meinem Wunsche geschehe und sich nicht etwa irgendwelche lokalen Belange hineinmengten. Ein Londoner Anwalt, dachte ich mir, würde vielleicht seine genaue Kenntnis der örtlichen Verhältnisse nutzen, um sich selbst oder einem Freunde etwas Gutes zu tun. Deshalb wählte ich einen weitab ansässigen Vermittler, denn ein solcher scheint mir eher die Gewähr zu bieten, dass er wirklich allein meinen Interessen dient.«

      Ich erwiderte, bei diesem Vorgehen sähe


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