Dracula. Bram Stoker

Dracula - Bram Stoker


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dass diese wie Lanzen oder Hellebarden aussahen. Als der Abend hereinbrach, wurde es sehr kalt, und das zunehmende Dämmerlicht schien die düsteren Umrisse der Bäume – der Eichen, Buchen und Kiefern – zu einer einzigen dunklen und verschwommenen Masse zu verschmelzen. Nur in den tief eingeschnittenen Tälern, auf die wir herabschauten, während wir näher zum Pass gelangten, zeichneten sich einzelne Tannen noch schwarz und schartig gegen ihren Hintergrund ab, denn der bestand aus altem Schnee. Manchmal arbeitete sich die Straße durch dichte Tannenwälder voran, die in der Dunkelheit über uns zusammenzuschlagen schienen. Hier und da hingen große Massen Dunstgrau in den Bäumen, was auf sonderbare Weise unheimlich und feierlich zugleich wirkte. Das Bild brachte die Gedanken erneut in Wallung, weckte wieder die gruseligen Phantastereien, die am früheren Abend die sinkende Sonne ausgelöst hatte, als sie den geisterhaften Schwaden, die sich schier endlos durch die Karpatentäler winden, seltsam deutliche Konturen verlieh. Oft waren die Hänge so steil, dass die Pferde trotz der Hast unseres Fuhrmanns nur langsam vorankamen. Ich wollte aussteigen und neben dem Gespann hergehen, wie wir es bei uns daheim in solchen Fällen zu tun pflegen, aber der Kutscher war entschieden dagegen. »Nein, nein«, rief er, »Sie dürfen nicht draußen rumlaufen. Die Hunde sind hier zu wild.« Und schob eine Bemerkung nach, die er wohl als grimmigen Scherz verstanden wissen wollte, denn er schaute die übrigen Passagiere an, um sich ihres beifälligen Lächelns zu versichern: »Sie werden heute nacht vielleicht noch genug Spannendes erleben, bevor Sie sich schlafen legen.« Ohne Pause ging die Fahrt weiter. Nur einmal hielt er kurz, um die Laternen anzuzünden.

      Als es ganz dunkel geworden war, schien sich eine gewisse Unruhe bei meinen Reisekameraden zu verbreiten. Einer nach dem anderen sprach wiederholt auf den Kutscher ein; vermutlich wollten sie unbedingt, dass er noch schneller fuhr. Er ließ erbarmungslos seine lange Peitsche über die Pferde sausen und feuerte sie mit wilden Rufen an, ihr Letztes zu geben. Plötzlich erblickte ich in der Dunkelheit vor uns einen grauen Lichtschimmer; war da irgendwo ein Spalt in den Felswänden? Die Unruhe der anderen Passagiere steigerte sich. Die morsche Kutsche schaukelte in ihrer Lederfederung und schwankte wie ein Boot auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Der Weg wurde ebener, und wir flogen nur so dahin. Die Berge schienen auf beiden Seiten heranzurücken und drohend auf uns herabzuschauen. Wir hatten den Borgópass erreicht. Meine Reisegefährten gingen nun, einer nach dem anderen, dazu über, mir Geschenke auszuhändigen; sie nötigten sie mir mit einem Ernst auf, der eine Ablehnung unmöglich machte. Es waren Gaben verschiedener und sicherlich auch seltsamer Art, doch hinter jeder spürte man die gute Absicht, geboren aus schlichter Frömmigkeit, und jede wurde begleitet von freundlichen Worten und Segenswünschen, aber eben auch von jener eigenartigen Mixtur furchtsamer Gesten, wie ich sie vor dem Hotel in Bistritz beobachtet hatte: dem Kreuzschlagen und dem Handzeichen gegen den bösen Blick. Während wir so dahinflogen, mehrten sich bei den anderen die Zeichen gespannter Aufmerksamkeit. Der Postillion saß weit vorgebeugt, die Passagiere lehnten sich links und rechts aus der Kutsche, reckten die Hälse und starrten angestrengt in die Dunkelheit. Offenbar meinten sie alle, dass da draußen bald irgendetwas sehr Beunruhigendes geschehen werde oder sogar schon im Gange war. Ich fragte, was denn los sei, aber keiner mochte mir auch nur die geringste Erklärung geben. Die Unruhe hielt eine ganze Weile an. Endlich kamen wir an die Stelle, wo sich der Pass nach Osten öffnete. Dunkle, grollende Wolken schwebten über uns, und in der Luft hing eine schwere, drückende Schwüle, die ahnen ließ, dass gleich Blitz und Donner losbrächen. Es war, als trennte das Gebirge zwei unterschiedliche Atmosphären, und wir gerieten jetzt in die gewittrige. Ich lehnte mich nun selbst hinaus, denn ich wollte nach der Karosse spähen, die mich zum Grafen bringen sollte. Jeden Moment mussten doch irgendwo da draußen zwei Laternen funkeln, aber alles blieb stockfinster. Das einzige Licht weit und breit war der flackernde Schein unserer eigenen Lampen, in dem der Dampf, den unsere strapazierten Pferde absonderten, als weiße Wolke aufstieg. Wir sahen ein Stück sandige Straße vor uns, das sich wie ein helles Band vor uns hinzog, doch nirgends gab es auch nur die Spur eines sich nähernden Fahrzeugs. Die Passagiere lehnten sich entspannt zurück und seufzten erleichtert; ich empfand dies regelrecht als Hohn auf meine Enttäuschung. Ich überlegte schon, was ich denn nun sinnvollerweise tun sollte, da blickte der Kutscher auf seine Uhr und raunte den anderen etwas zu. Er sprach so leise, dass ich es kaum hörte; und doch meinte ich zu verstehen: »Eine Stunde vor der Zeit.« Dann wandte er sich an mich und sagte in einem Deutsch, das noch schlechter war als meines: »Kein Wagen hier. Der Herr werden wohl doch nicht erwartet. Sie sollten jetzt mit uns fahren nach Bukowina und morgen zurück oder übermorgen, ja, besser übermorgen.«

      Noch während er sprach, wieherten plötzlich seine Pferde los, schnaubten und schlugen so wild aus, dass der Postillion sie festhalten musste. Die Bauern schrien auf im Chor und bekreuzigten sich nach Kräften: von hinten kam eine Kalesche heran und bremste neben uns. Vier Pferde zogen sie: kohlrabenschwarze prächtige Tiere, wie ich im flackernden Strahl unserer Laternen erkannte. Es lenkte sie ein hochgewachsener Mann mit langem braunem Bart; er trug einen großen schwarzen Hut, der offenbar sein Gesicht vor uns verbergen sollte. Ich konnte nur zwei sehr helle, funkelnde Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen, als er sich uns zuwandte. Er sagte zum Postillion: »Du bist aber früh dran heute nacht, mein Freund.« Unser Fahrer stammelte verlegen: »Der englische Herr hatte es eilig.« Worauf der Fremde erwiderte: »Deshalb wolltest du ihn vermutlich auch gleich ganz weit in die Bukowina verfrachten. Du kannst mich nicht täuschen, mein Freund; ich weiß zu viel, und meine Pferde sind flink.« Bei diesen Worten lächelte er; das Laternenlicht fiel auf einen harten Mund mit tiefroten Lippen und scharf wirkenden elfenbeinweißen Zähnen. Einer meiner Reisekameraden flüsterte seinen Nachbarn den Vers aus Bürgers »Lenore« zu:

      »Hurra, die Toten reiten schnell.«

      Der seltsame Fuhrmann hatte die Worte offenbar gehört, denn er blickte auf und lächelte mit funkelnden Augen in Richtung des Sprechers. Dieser wandte sich ab, spreizte zwei Finger der einen Hand dem Bärtigen entgegen und bekreuzigte sich mit der anderen. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, befahl der Fremde. Unser Fahrer gehorchte bereitwilligst und überreichte ihm meine Reisetaschen, die er in der Kalesche verstaute. Da diese ganz dicht an der Kutsche stand, konnte ich direkt umsteigen. Der Fremde half mir dabei; seine Hand umspannte meinen Arm mit stählernem Griff. Er musste ungeheure Kräfte besitzen. Wortlos zog er die Zügel an, die Pferde wendeten, und wir jagten hinein in den finsteren Pass. Als ich zurückblickte, sah ich im Laternenschein wieder den Dampf, der von den Kutschpferden aufstieg; davor zeichneten sich dunkel die Gestalten meiner bisherigen Reisekameraden ab, die sich immer noch bekreuzigten. Schließlich ließ ihr Fahrer seine Peitsche knallen, feuerte die Pferde an, und dann jagten auch sie davon, freilich anderen Zielen entgegen, in die Bukowina hinein.

      Kaum waren sie in der Dunkelheit verschwunden, verspürte ich ein seltsames Schaudern, und ein Gefühl der Verlassenheit ergriff mich. Doch wurde mir auch schon ein Mantel um die Schultern gelegt und eine Decke über die Knie, und der Fahrer sagte zu mir in ausgezeichnetem Deutsch:

      »Die Nacht ist kalt, und mein Herr, der Graf, hat mir aufgetragen, Sorge dafür zu tragen, dass Sie keinen Schaden nehmen. Unter dem Sitz finden Sie eine Flasche Sliwowitz (der Pflaumenbrand aus der Gegend hier), wenn Sie etwas zum Aufwärmen brauchen.« Ich trank nicht davon, aber es war beruhigend für mich zu wissen, dass ich mich im Notfall seiner hätte bedienen können. Das Geschehen löste zwar ein merkwürdiges Gefühl in mir aus, aber keineswegs Angst. Und doch – wäre da irgendeine Alternative gewesen zu dieser nächtlichen Reise ins Unbekannte: ich hätte sie gewählt. Der Wagen fuhr zunächst in scharfem Tempo geradeaus; dann aber machten wir eine Kehrtwendung und fuhren erneut geradeaus weiter. Ich hatte den Eindruck, dass wir ständig wieder und wieder dasselbe Gelände durchquerten; also merkte ich mir ein paar besonders auffällige Punkte in der Gegend und musste schließlich feststellen, dass mein Eindruck richtig war. Gern hätte ich den Kutscher gefragt, was dies denn solle; aber ich ließ es lieber bleiben, denn ich befürchtete, dass, wenn das Ganze ein gezieltes Verzögerungsmanöver war, in meiner Situation ein Protest doch nichts nützen würde. Aber allmählich wuchs in mir die Neugier zu erfahren, wie viel Zeit schon verstrichen sei. Ich entzündete ein Streichholz, hielt die Flamme an meine Uhr und schaute aufs Zifferblatt. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Das versetzte mir denn doch einen Schreck. Der gewöhnliche Aberglaube, der sich um die Mitternachtsstunde rankt, wurde bei mir, so vermute ich, noch verstärkt


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