Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown

Unterwegs mit dir - Sharon Garlough Brown


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ich nach dir gerufen habe?“

      „Mama, ich hab sie gefunden!“ Mit strahlendem Gesicht überreichte sie ihrer Mutter ihren Fund.

      Mama zog Meg die Mütze vom Kopf. Dichte, blonde Locken kamen zum Vorschein. „Zieh deine Stiefel draußen aus. Wie oft muss ich das noch sagen? Ich möchte nicht, dass du den Schnee ins Haus trägst.“

      Meg ließ ihre Stiefel auf der Veranda stehen und tänzelte, die Glocke schwenkend, ins Haus. „Guck doch, Mama! Ich habe deine Glocken gefunden!“

      Stirnrunzelnd schloss Mama die Tür. „Welche Glocken?“

      

      Meg Crane trat über die Schwelle ihres Elternhauses in Kingsbury in Michigan. Das Klimpern ihrer Schlüssel hallte in dem weitläufigen Flur. Obwohl sie fast 40 ihrer 46 Jahre in dem großen viktorianischen Haus der Familie Fowler verbracht hatte, war es ihr noch nie so unendlich einsam vorgekommen. Meg warf die Tür ins Schloss, rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang langsam zu Boden und lehnte den Kopf an die Holzvertäfelung.

      Fort. Becca war fort. Ihre geliebte Tochter war fortgegangen.

      Meg wünschte, sie hätten mehr Zeit miteinander gehabt. Der 4. August war viel zu schnell angebrochen, und jetzt saß ihr einziges Kind in einem Flugzeug nach London, wo sie ihr erstes Collegejahr verbringen würde.

      Beccas Lebendigkeit hatte Meg in Bewegung gehalten. Sie hatten immer so vieles gemeinsam unternommen, so viele Vorbereitungen waren für das Abenteuer in Übersee zu treffen gewesen. Beccas Fröhlichkeit und Begeisterung hatten Megs Trauer in den Hintergrund gedrängt.

      Doch jetzt herrschte eine schreck­liche Stille in dem leeren Haus.

      Mutter war auch fort. Tot.

      Monate waren seit Ruth Fowlers Tod vergangen, und noch immer kämpfte Meg gegen den Impuls an, ihrer Mutter einen Gruß zuzurufen, wenn sie das Haus betrat. Noch immer lauschte sie auf ihre Schritte auf der Treppe. Noch immer hielt sie vor der Schlafzimmertür inne und unterdrückte den Drang, ihr gute Nacht zu sagen.

      Dass Becca nicht mehr da war, würde sie vermutlich genauso langsam verarbeiten. Sie stellte sich vor, wie sie nach Beccas rosa Wasserflasche auf der Küchentheke Ausschau hielt. Wie sie auf die fröh­liche Stimme ihrer Tochter lauschte, die zur Musik aus ihrem iPod summte. Bestimmt würde sie immer noch um Mitternacht aufwachen und auf Beccas Schritte horchen, die von einer Unternehmung nach Hause kam.

      Doch jetzt waren die einzigen Geräusche im Haus die melancholischen Seufzer einer alten Großvateruhr und das leise Summen des Kühlschranks.

      Meg Crane war allein. Ganz allein.

      Und was nun?

      Meg sank in sich zusammen, barg ihren Kopf in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

      

      Am Samstagabend stellte Meg pflichtschuldig ihren Wecker. Ob­­wohl sie den Sonntagmorgen lieber im Bett verbracht hätte, betrat sie während des ersten Liedes die Kingsbury Community Church. Seit Jahren machte sie das nun schon so. Es war die sicherste Art, Gesprächen mit den anderen Gottesdienstbesuchern aus dem Weg zu gehen: Sie kam, wenn das erste Lied gesungen wurde, setzte sich in die hinterste Ecke in die Nähe der Tür und verließ den Raum vor dem Segen. Mit ihren 1,52 Metern besaß Meg den einzigartigen Vorteil, dass sie in einen Raum schlüpfen und wieder verschwinden konnte, ohne bemerkt zu werden. An den meisten Sonntagen funktionierte ihre Strategie, sich unsichtbar zu machen, ganz gut.

      Doch an diesem Sonntag stand zufällig Sandy an der Tür, die Frau des Pastors, als Meg aus dem Gottesdienstraum kam. Zügigen Schrittes durchquerte Meg das Foyer, als hätte sie es eilig, und hoffte, ihr entschlossener Blick würde bei der Pastorenfrau den Eindruck erwecken, dass dringende andere Verpflichtungen auf sie warteten. Doch als Sandy sie anlächelte und mit Namen begrüßte, war Meg klar, dass ihr Vorhaben gescheitert war.

      „Ich hatte gehofft, dich heute Morgen mal zu erwischen, Meg. In den vergangenen Monaten haben wir gar nicht miteinander reden können. Wie geht es dir?“

      „Prima, danke, Sandy. Und dir?“

      „Ach, gut. Wir genießen das schöne Wetter. Die Sommer in Michigan sind einfach wunderschön, findest du nicht?“

      Der Chor stimmte das letzte Lied an, und Meg war klar, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, bevor sich das Foyer mit Menschen füllte, die sie nicht sehen wollte. Der Kraftaufwand, sich so weit zu beherrschen, dass sie nicht in Tränen ausbrach, war einfach zu groß. Ein mitfühlender Blick, ein liebevolles Wort, und sie verlor ihre mühsam erkämpfte Fassung.

      Langsam schob sie sich näher an den Ausgang heran.

      „Das hier war neulich in der Post und ich musste dabei an dich denken.“ Sandy reichte ihr einen pflaumenblauen Flyer. „Du kennst doch das New Hope-Zentrum, oder?“

      Meg hatte das Einkehrzentrum noch nie betreten, aber schließlich war sie in Kingsbury aufgewachsen und natürlich oft an dem Gebäude und dem Gelände vorbeigefahren. „Ich – äh … ich weiß, wo es ist, aber das ist auch schon alles.“ Die Kirchentüren wurden geöffnet und bald würde sie von Menschen umringt sein.

      Sandy hatte es ganz eindeutig nicht so eilig wie sie. „Das New Hope-Zentrum ist eine tolle Einrichtung“, schwärmte sie. „Ich habe schon an vielen Seminaren teilgenommen, die dort angeboten werden, und das hier ist wirklich hervorragend.“

      Meg strich sich die aschblonden Locken aus den Augen und heuchelte Interesse, als Sandy ihr den Flyer zeigte, der zu einer „geist­lichen Reise“ einlud.

      „Dieser Kurs hat zum Ziel, dass man geist­liche Disziplinen kennenlernt, mit deren Hilfe man die Beziehung zu Gott vertiefen kann“, erklärte Sandy. „Du hattest in den vergangenen Monaten so viele Veränderungen zu verkraften. Da dachte ich, dass dieser Kurs vielleicht etwas Gutes für dich wäre.“

      Meg biss sich auf die Lippe. Offensichtlich hatten der Pastor und seine Frau erkannt, wie schwer der Trauerprozess an ihr nagte.

      Sandy sprach mit sanfter Stimme weiter. „Ich erinnere mich noch, wie es mir nach dem Tod meiner Mutter ging. Und ich weiß doch, wie nahe ihr euch gestanden habt.“

      Nahe?

      Meg spürte, wie die Hitze über den Hals in ihre Wangen hochstieg. Die roten Flecken waren auf ihrer hellen Haut deutlich zu erkennen. Verräter. Sie hasste diese Flecken.

      „Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast, Sandy“, sagte sie und legte ihre eiskalte Hand an ihren Hals, um ihn zu kühlen. „Bitte richte Dave aus, dass er heute eine sehr gute Predigt gehalten hat.“

      Und dann schlüpfte sie schnell durch die Glastüren, bevor jemand sie ansprechen konnte.

      Die siebenjährige Hannah Shepley liebte Braunbär, den treuen Verwalter ihrer Geheimnisse und Sorgen, heiß und innig. Als eines der sanften braunen Augen des Teddys ausfiel und nicht mehr zu finden war, brach es ihr das Herz. Miss Betty, die alte Nachbarin, tätschelte mit ihrer arthritischen Hand Hannahs Kopf und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen; sie könne Braunbärs Augen wieder in Ordnung bringen. Mit Tränen in den Augen vertraute Hannah ihren Freund Miss Betty an, die versprach, ihn ihr bald zurückzubringen.

      Als Braunbär zwei Tage später nach Hause kam, strahlte Miss Betty und sagte: „Hier, Hannah. Siehst du? So gut wie neu!“

      Doch als Hannah in Braunbärs Augen blickte, erkannte sie ihn nicht. Und sie wusste, dass auch er sie nicht erkannte. Der allwissende, liebevolle Ausdruck war fort, ersetzt durch den ausdrucks­losen, starren Blick von Plastikknöpfen, die keine Erinnerungen hatten. Hannah hatte ihren besten Freund und Vertrauten ver­loren.

      Ihrer Mutter war ihr Schweigen peinlich. „Was sagt man, Hannah? Miss Betty hat sich große Mühe gegeben, deinen Teddy für dich zu reparieren.“

      „Vielen Dank, Miss Betty“, flüsterte Hannah. Doch als sie allein in ihrem Zimmer war, brach sie in Tränen aus.

      


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