Mit Lola durch Berlin. Bettina Arlt
und es ist schwer zu sagen, worüber er sich mehr wundert: Dass die Skulpturen sich strecken und recken, oder dass er nicht die geringste Ahnung hat, wie er an diesen Ort kam und was in der im Dunkel liegenden Zeit passiert ist. Da trifft ihn plötzlich etwas am Kopf und er schreckt zusammen.
Professor Raat (empört)
Ehrlose Rasselbande…
Man spürt, dass ihm die Auseinandersetzung mit ungebührlichem Verhalten nicht fremd ist. Doch als er den Kopf hebt, um den Schlingel zu maßregeln, erblickt er statt eines frechen Primaners den wohlgebauten Alabasterkörper des Adonis, der spöttisch aus dem oberen Rang auf ihn herabblickt.
Adonis
Na, Alterchen? Was geht?
Professor Raat
Ich muss doch sehr bitten, junger Mann! Mit wem hab ich überhaupt die Ehre, wenn ich mal so fragen darf? Ich bin nämlich Professor Raat, Gymnasiallehrer für die Oberstufe, zu dienen.
Aphrodite (kichernd)
Wie spricht der denn?
Der Professor folgt mit dem Kopf ihrer Stimme, wendet sich aber sofort wieder ab, als er sieht, dass sie splitternackt ist.
Professor Raat
Oh, Verzeihung, gnädige Frau, es liegt mir fern, ihrer Schamhaftigkeit zu nahe treten zu wollen. Ich weiß schließlich, was sich gehört.
Aphrodite
Da bist du aber hier der Einzige, mein junger Freund. Normalerweise starren die Mannsbilder, die uns hier besuchen kommen, mich immer an, als wollten sie mich studieren. Das ist mir sehr unangenehm.
Professor Raat
Besuchen? Ja, wieso besuchen die Sie denn?
Hermes (kommt angeflogen und säuselt ihm ins Ohr)
Na, weil wir hier im Museum sind, du Schnellmerker. Was hast du denn gedacht? Im alten Athen? (schwirrt weiter)
Professor Raat (ruft Hermes, dem Götterboten, hinterher)
Also, um der Wahrheit genüge zu tun, dachte ich tatsächlich zunächst…
Doch dieser hat längst wieder auf seinem Sockel in der oberen Reihe Platz genommen.
Hermes
Ach was, Opa. Sieh dich doch mal um! Wir sind in der Eingangsrotunde des Alten Museums in Berlin.
Professor Raat
Aha…
Mehr bringt er nicht hervor, während er den Ort einer näheren Untersuchung unterzieht und das mit Kassettenfeldern geschmückte Innere der Kuppel bewundert.
Professor Raat
Und… wie komme ich hierher?
Auf diese Frage hin entbrennt eine wilde Diskussion unter den Götterstatuen, von denen jede ihr jahrhundertealtes Wissen einbringen und ihre eigene Theorie über die vorliegende Situation zum Besten geben will.
Dionysos (der lallt und sich an seinem Stab festhält)
Wahrscheinlich hast du zu lange mit deinen Kumpels gefeiert und warst so besoffen, dass du es nicht mehr bis nach Hause geschafft hast.
Hermes
Du musst nicht immer von dir auf andere schließen, Suffkopp. Ich glaub eher, dass er was geklaut hat und sich hier vor der Polente verstecken wollte.
Aphrodite
Das sagst du nur, weil du der Gott der Diebe bist. Ich glaube eher, dass er Liebeskummer hatte und sich hierher zurückgezogen hat, um seiner verlorenen Liebe nachzuweinen.
Eros
Genau. Sie hat ihn nicht rangelassen, und da hat er sich aus Verzweiflung die Kugel gegeben.
Aphrodite (schmollend)
Ach, musst du dich immer so grob ausdrücken? (entdeckt etwas, das halb aus der Jackentasche des Professors heraushängt) Hach! Was haben wir denn da? (entzückt zieht sie ihm einen Seidenstrumpf aus der Tasche)
Professor Raat
Oh! Also ich weiß gar nicht, wie der…
Aphrodite (als hätte sie ihn auf frischer Tat ertappt)
Tu doch nicht so, du alter Schwerenöter! (zu den anderen) Und? Wer von euch will jetzt noch leugnen, dass hier ein romantisches Abenteuer dahintersteckt?
Da ertönt eine tiefe und laute Stimme aus einer Ecke der Rotunde, die noch im Dunkeln liegt. „Wie lange wollt ihr ihn noch auf die Folter spannen. Sagt ihm doch endlich, dass er tot ist… tot… tot…“ Die letzten Worte hallen gespenstisch von den hohen Wänden wider und werden von schweren Tritten begleitet. Die Götter und Göttinnen halten erschrocken inne und wenden sich ängstlich zu dem Sprecher um. Eine große und furchteinflößende Skulptur mit finsterem Blick und einer Krone auf dem Haupt wird langsam im Halbdunkel sichtbar und kommt auf sie zu.
Professor Raat (erschrocken und mit piepsiger Stimme)
Tot?
Hades, Herrscher der Unterwelt (emotionslos)
Tot.
Da hockt sich der Professor auf einen nahegelegenen Sockel und legt den Kopf in die Hände.
Professor Raat
O Gott, o Gott, o Gott… Da sitze ich ja schön in der Patsche!
Die Götterstatuen stehen im Kreis um ihn herum und sehen mitleidig auf ihn herab. Da hockt sich Hera, die Gattin des Zeus, neben ihn und fängt an zu erzählen.
Hera
Als du vor 80 Jahren hierher kamst, warst du ganz aufgelöst und offensichtlich auch ein wenig orientierungslos, denn du hast ständig was von einem Gymnasium gestammelt, dass du dein Lehrerpult suchst und alle Schüler bestrafen willst.
Aphrodite
Ja, und du hast immer wieder einen blauen Engel erwähnt. (legt den rechten Zeigefinger an den Mund, nachdenklich) Komisch, eigentlich… Blauer Engel. Aber ich finde, der Damenstrumpf ist der beste Beweis dafür, dass es sich dabei um eine Dame handelt, meint ihr nicht? (wendet sie sich an die anderen Götter)
Professor Raat (der sich erinnert)
Ja! Kurz bevor ich vorhin aufwachte, hatte ich einen seltsamen Traum. Es ging um eine Frau… Und ich muss gestehen, dass ich mich im Traum so weit vergaß, dass ich sie… (zögert) ermorden wollte!
Die Götterstatuen sehen einander ernst an.
Zeus
Das ist schlimm. Kein Wunder, dass er als unruhiger Geist umherwandert. Mörder finden niemals Ruhe.
Die anderen schweigen betreten. Nach einer Weile:
Aphrodite (die mit dem Fuß aufstampft)
Nein! Ich glaube nicht, dass unser Professor ein Mörder ist. Das würde nicht zu ihm passen. Er hat so liebe Augen. (streicht ihm zärtlich über das zersauste Haar) Aber damit deine Seele Frieden findet, musst du herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Und da kann dir nur dein Engel helfen.
Professor