Die Erleuchtung der Welt. Johanna von Wild

Die Erleuchtung der Welt - Johanna von Wild


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sie schlief, eine Strähne abgeschnitten. Die beiden Figürchen hatten in einer kleinen, gepolsterten Schachtel Platz gefunden, die gerade in Mechthilds Handteller passte. Fasziniert von den winzigen, fast identisch aussehenden Püppchen hatte sie ihre anderen Spielzeuge kaum mehr beachtet. Es war ein spontaner Einfall gewesen, das Rothaarige dem Mädchen in der Menge zuzuwerfen, und es tat ihr keinen Augenblick leid.

      Helena drängelte sich durch die Menschenmenge und lief nach Hause, um sich in Ruhe anzuschauen, was die Prinzessin ihr zugeworfen hatte. Vorsichtig öffnete sie ihre linke Faust, die das kleine Geschenk den ganzen Heimweg über fest umschlossen gehalten hatte. Ein aus Holz geschnitztes winziges Püppchen lag darin, das ein Brokatkleidchen trug und dunkelrote Zöpfchen besaß. Noch nie hatte Helena etwas derart Schönes geschenkt bekommen. Fest drückte sie die kleine Puppe an ihre Brust.

      »Meine kleine Prinzessin, ich werde immer schön auf dich aufpassen«, sprach sie leise zu der kleinen Figur. Aus ihrem einfachen Schuh löste sie eines der dünnen Lederbändchen, knüpfte eine kleine Schlinge, die sie der Puppe um die Körpermitte band und noch einmal fest verknotete. Dann legte sie sich ihr Geschenk um den Hals und ließ den Anhänger unter ihrem derben braunen Kittel verschwinden.

      1427

      Neckargemünd, November

      Anfang November war es bereits bitterkalt, und der eisige Wind pfiff nur so durch die Ritzen der Kate, die Helena, gemeinsam mit ihrer kleinen Schwester Greta, versuchte, mit dem schimmeligen Stroh abzudichten. Doch es nutzte wenig. Die kleine Fachwerkhütte stand in einer schmalen Gasse, wo sich weitere armselige Häuschen dicht an dicht drängten. Wigbert, der Vater der Kinder, verdingte sich als Tagelöhner, doch oft reichte das Geld hinten und vorne nicht, um die Familie ernähren und die Abgaben bezahlen zu können.

      An der Herdstelle brannte ein kleines Feuer, welches die Kate aber nicht sonderlich erwärmte. Helenas jüngerer Bruder Siegfried war mit dem Vater unterwegs, in der Hoffnung, einen unvorsichtigen Hasen zu erlegen. Die letzte Ernte war ausgesprochen schlecht gewesen, und Getreide war teuer geworden. Wilderei wurde mit harten Strafen geahndet, aber der Hunger war zu groß, um sich darüber Gedanken zu machen. Zudem hatten sie die Hoffnung, nicht erwischt zu werden, so wie die meisten Wilderer.

      »Geh nach oben in den Giebel und hol weiteres Stroh«, wies Helena ihre Schwester an. »Es ist immer noch viel zu kalt hier drin.«

      In der Nähe des Herdfeuers lag ihre Mutter matt auf einer Strohunterlage, zugedeckt mit Schaffellen, ihre Stirn vor Schweiß glänzend. Die Niederkunft stand kurz bevor, und Margret ahnte, dass sie diese Geburt nicht überleben würde. Die Wehen kamen jetzt immer öfter, und sie schrie ihre Qual hinaus. Helena hatte die Anweisungen ihrer Mutter befolgt und in einem eisernen Kessel Wasser erhitzt. Messer und Faden lagen bereit, um später die Nabelschnur zu durchtrennen und abzubinden.

      Ihre Familie besaß nicht genug Geld, um sich eine Hebamme leisten zu können, und Margret hatte ihrer ältesten Tochter immer wieder eingeschärft, was ihre Aufgaben waren, wenn das Kind zur Welt kam. Aber Helena wusste auch so, was zu tun war. Sie hatte bereits oft geholfen, wenn in der Nachbarschaft ein Kind zur Welt gebracht worden war. Margret hatte schon einige Fehlgeburten erlitten, erst letztes Jahr war das Kind tot zur Welt gekommen. Nur knapp hatte Helenas Mutter überlebt.

      Helena war nun die älteste, nachdem ihre Brüder, Hans und Johann, im vergangenen Jahr innerhalb weniger Tage an derselben gespenstischen Krankheit verstorben waren, die zunächst harmlos begonnen hatte: Fieber, Husten und Schnupfen, dann ein fleckiger Ausschlag. Hans hatte plötzlich ganz flach und schnell geatmet und irgendwann keine Luft mehr bekommen. Johann war wenige Tage darauf gestorben. Bevor er in einen Schlaf gefallen war, aus dem er nicht mehr erwachen sollte, hatte er über fürchterliche Kopfschmerzen geklagt.

      Helena kniete neben ihrer Mutter, hielt deren Hand und versuchte, ihrer Angst Herr zu werden. Das lange dunkelrote Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die linke Schulter hing. Ihre dunkelgrünen Augen starrten in die ihrer Mutter, die durch den Schmerz und die Todesangst fast schwarz erschienen. Greta, die emsig Stroh vom Giebel herbeigeschleppt und weitere Ritzen zugestopft hatte, stand regungslos abseits und fürchtete sich zu Tode.

      Eine weitere starke Wehe fuhr durch Margrets ausgemergelten Körper, ließ ihn sich aufbäumen und danach kraftlos auf das Strohlager sacken. Ein Schwall Fruchtwasser ergoss sich zwischen Margrets Beinen.

      »Die Fruchtblase ist geplatzt, jetzt dauert es nicht mehr lange, mein Kind«, krächzte Margret heiser.

      »Greta, schnell, bring mir das Wasser«, scheuchte Helena ihre kleine Schwester zum Feuer. Doch Greta stand wie versteinert da, glotzte mit aufgerissenen Augen auf die Szene vor ihr.

      »Greta, steh hier nicht rum, los!«, schrie Helena.

      Doch Greta war wie erstarrt. Sie war erst sechs Jahre alt. Das alles war zu viel für sie. Letztes Jahr war sie alleine mit Margret in der Hütte gewesen und hatte nur zusehen können, wie ihr Geschwisterchen unter den Schmerzensschreien ihrer Mutter tot geboren worden war. Dieser Anblick hatte das Mädchen zutiefst erschüttert, und jetzt schien sich alles zu wiederholen.

      Wütend stand Helena auf, war mit drei großen Schritten beim Herd, wickelte sich ein Tuch um die Hand, hob den Kessel vom Feuer und brachte ihn zur Liegestatt. Sie tauchte beide Hände in das heiße Wasser, verzog schmerzhaft das Gesicht. Eine weitere Wehe folgte, und Margret begann zu pressen. Helena kniete sich zwischen die gespreizten Beine ihrer Mutter. Was sie sah, ließ sie scharf die Luft einziehen.

      »Mutter, ich glaube, das Kind liegt verkehrt herum«, sagte sie leise, doch laut genug, dass Margret es hören konnte.

      Margret erschauerte. Noch vor zwei Tagen war alles in Ordnung gewesen, doch dann hatte sich das Kind in ihrem Leib so heftig bewegt, und eine dunkle Ahnung hatte sie beschlichen, dass es sich gedreht hatte. Eine Steißgeburt. Ohne Hebamme. Selbst mit einer Gebärhelferin stünden ihre Chancen schlecht. Aufgestützt auf ihre Hände, den Rücken durchgebogen, presste sie mit der nächsten Wehe den kleinen Körper bis zu den Schulterblättern heraus, spürte nicht, wie ihr Damm riss. Schnell und flach atmete sie, presste weiter, brüllte vor Schmerz. Helena schob ihren rechten Arm so unter den Bauch des Kindes, dass sie es sicher halten konnte. Mit ihren Fingern tastete sie nach dem Mündchen, steckte den Zeigefinger hinein und senkte das Köpfchen auf den Brustkorb. Mit der letzten Wehe zog sie ihr Geschwisterchen heraus. Ein Junge. Kurz darauf glitt der Mutterkuchen mit einem riesigen Blutschwall heraus.

      Schwer atmend ließ Margret sich nach hinten auf den Rücken fallen, bleich und von Schweiß durchnässt, ihre Haare klebten am Kopf. Helena gab ihrem Brüderchen einen Klaps, woraufhin ein schwaches Weinen zu hören war. Sanft legte sie das Neugeborene auf Margrets Bauch und tauchte einen Lappen in den Kessel, legte ihn beiseite, damit er etwas abkühlen konnte, bevor sie das Kind damit säuberte.

      Margret hatte keine Kraft mehr und sah sich ihr Kind nicht einmal an. Teilnahmslos lag sie mit geschlossenen Augen da. Helena nahm den Faden, unterband die Nabelschnur an zwei Stellen und kappte mit dem scharfen Messer die Verbindung zwischen Mutter und Kind. Dann nahm sie den Lappen und begann, den Säugling von Blut und Schleim zu reinigen. Als sie in das Gesicht ihres Brüderchens blickte, wurde ihr bang ums Herz. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Kleine mandelförmige Augen, eine viel zu hohe Stirn mit einem flammenden Mal, die Lippen seltsam geformt. Eine Hasenscharte. Die Ohren saßen viel zu tief am Köpfchen. Helenas Augen glitten an dem kleinen Körper entlang. Die linke Hand besaß sechs Finger. Sie riss sich von dem schrecklichen Anblick los, wickelte das Kind in eine Decke und legte es neben seine Mutter.

      »Mutter, Mutter!« Vorsichtig rüttelte sie an Margrets Schulter.

      Doch Margret rührte sich nicht, und immer noch floss Blut aus ihr heraus. Verzweifelt versuchte Helena, die Blutung mit dem Lappen zu stoppen, doch es nützte nichts.

      Als ihr Vater und Siegfried nach Hause kamen, fanden sie Helena schluchzend, das Neugeborene fest an sich gedrückt, neben der reglosen Margret. Greta saß mit angewinkelten Beinen in der Ecke, den Kopf auf die Knie gelegt und zwischen den Armen vergraben.

      Wigbert stürzte zu seiner Frau, kniete sich neben sie, tätschelte die bleichen


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