Die Erleuchtung der Welt. Johanna von Wild

Die Erleuchtung der Welt - Johanna von Wild


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lag im Sterben. Die Kinder konnten des Vaters Tränen nicht sehen, wofür er dankbar war. Der Schmerz des Verlustes zerriss ihn beinahe, doch er musste sich zusammenreißen. Siegfried begann, leise zu weinen, setzte sich neben Greta und zog seine kleine Schwester an sich.

      Wie sollen wir den Säugling füttern? Milch haben wir keine, dachte Helena. Vielleicht bekommen wir von Anna etwas.

      Anna besaß eine kleine Viehherde und einige Hühner, hatte ein gutes Herz und wohnte nur eine Gasse weiter. Hin und wieder steckte sie Wigberts Kindern etwas zu essen zu, meist ein Stückchen Käse oder einen Apfel.

      »Und das Kind?«, fragte Wigbert mit gebrochener Stimme.

      Sanft ließ er Margret, die wie leblos dalag, zurücksinken und kam mühsam auf die Beine.

      »Es lebt, aber es ist schwach. Es kam mit dem Steiß zuerst auf die Welt, und Mutter hat nicht aufgehört zu bluten.«

      »Gib es mir. Was ist es? Ein Junge?«

      Wigbert streckte die Arme nach seinem Sohn aus.

      »Vater … er …«, begann Helena zögernd und hielt das Neugeborene fest.

      Wie sollte sie ihrem Vater beibringen, dass das Kind gezeichnet war?

      »Gib ihn mir«, forderte Wigbert.

      Wortlos überließ Helena ihm ihren winzigen Bruder. Als Wigbert in das zerknautschte Gesichtchen blickte, fuhr er zurück, als hätte er einen Schlag erhalten.

      »Das ist Teufelswerk!« Mit ausgestreckten Armen hielt er seinen Sohn von sich, der schwach strampelte und wieder zu schreien begann. Helena nahm den Säugling, wiegte ihn in den Armen und tätschelte ihm beruhigend das Köpfchen. Auch wenn er missgestaltet war, war er doch ein Lebewesen. Und ihr Bruder.

      »Er hat Hunger, wir müssen ihm Milch geben, Vater.«

      »Bist du verrückt geworden? Wir haben kein Geld für Milch, und schon gar nicht für eine Missgeburt!«, fuhr er sie an.

      »Aber wir könnten doch Anna fra…«, begehrte Helena auf.

      »Schweig! Siegfried, geh und hol den Priester, beeil dich!«, befahl er seinem Sohn, der sich daraufhin aufrappelte und wortlos verschwand.

      »Und du bringst dieses scheußliche Ding weg. Geh schon, leg es in den Wald. Füchse und Wölfe werden dafür sorgen, dass es verschwindet«, herrschte Wigbert seine Tochter an.

      Helena schüttelte trotzig den Kopf und unterdrückte aufsteigende Tränen. Wigbert verpasste ihr eine Ohrfeige, riss ihr den Säugling aus den Armen und stürmte aus dem Haus. Greta stand auf, lief zu ihrer weinenden Schwester, drückte sich an sie, um sie zu trösten.

      »Komm, Greta«, schluchzte Helena und wischte sich die Tränen, die eine Spur durch ihr dreckiges Gesicht gezogen hatten, mit dem Handrücken ab. »Wir müssen Mutter waschen, damit sie anständig unter die Erde kommt.«

      Schweigend, nur durch gelegentliche Schluchzer unterbrochen, machten sich die Mädchen an die traurige Arbeit. Margret atmete immer noch, erlangte aber das Bewusstsein nicht wieder, auch nicht als der Vater zurückkam. Im Schlepptau hatte er Siegfried und den Priester, die er beide unterwegs getroffen hatte.

      Der vom Alter gebeugte Priester strich den Mädchen sanft übers Haar und legte sich seine Stola rechts und links über die Schulter. Dann kniete er sich neben die Sterbende.

      »Bekenne deine Sünden, Margret, damit ich dir die Absolution erteilen kann«, sagte er. Eine Antwort erhielt er nicht.

      Der Priester tauchte seinen Zeigefinger in ein Öltöpfchen und zeichnete Kreuze auf Margrets geschlossene Augenlider, Ohren, Nasen, Lippen, Brust, Herz, Schultern, Hände und Füße.

      »Ich salbe diese Hände mit geweihtem Öl, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, auf dass getilgt werde, was sie durch unerlaubtes oder schändliches Tun angerichtet haben.«

      Dann zog er einen kleinen Beutel unter seinem schwarzen Gewand hervor, um ihm eine Hostie zu entnehmen, die er Margret in den Mund legte. Ein tiefer, rasselnder Atemzug war zu hören, und Margrets Lebenslicht erlosch. Ächzend kam der Priester auf die Beine.

      »Wo ist das Kind, damit ich es taufen kann?«

      Wigbert schluckte. »Es war eine Missgeburt. Sie hat meiner Frau das Leben gekostet. Ich habe sie in den Wald gebracht.«

      »Missgeburten sind des Teufels. Hat Margret sich versündigt?«

      Wigbert schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein! Margret war die beste Ehefrau, die man sich nur wünschen konnte. Fleißig, ehrlich und eine gute Mutter. Täglich hat sie gebetet und ist regelmäßig zur Beichte gegangen.« Dann ging er in eine Ecke, wo eine kleine Kiste stand, in der nur wenige Münzen lagen. Er fischte zwei heraus und bezahlte die Stolgebühr. Geschickt ließ der Priester die Münzen unter seiner schwarzen Soutane verschwinden. »Gehabt euch wohl«, sagte er und verschwand.

      Vor wenigen Tagen hatten sie Margret begraben, und Wigbert wusste nicht, wie er seine Kinder über den Winter bringen sollte. Die sehr überschaubare Anzahl Säcke mit Weizen, Gerste und Äpfeln lagerte in einer Ecke der Scheune, die an die Kate grenzte. Wenigstens für Helena sollte er Arbeit finden, dann hätte er nur noch zwei Mäuler zu stopfen. Mit geübten Bewegungen wetzte er seine Sense, jetzt im Winter war Zeit, um Gerätschaften in Ordnung zu bringen. Er hob den Kopf, als er Anna auf sich zukommen sah. Ihr pausbackiges Gesicht mit den rot gefärbten Wangen wirkte immer fröhlich, obwohl vor wenigen Wochen ihr Mann am Wechselfieber gestorben und das Leben als kinderlose Witwe nicht leicht war.

      »Wigbert, ich habe nachgedacht«, begann sie, »jetzt, nachdem Margret gestorben ist, Gott hab sie selig, möchte ich dir einen Vorschlag machen.«

      Der Tagelöhner sah sie aufmerksam an.

      »Ich würde gerne Greta zu mir nehmen. Die Mutter wird ihr fehlen, sie ist ja noch so klein, und ich kann deine Tochter vieles lehren. Was meinst du?«

      Stumm dankte Wigbert dem Allmächtigen für diese Frau. Eine Sorge weniger.

      »Anna, dich schickt der Himmel. Du glaubst gar nicht, was für eine Last du mir damit von den Schultern nimmst. Meine Greta kann auch schon spinnen, sie ist sehr geschickt mit ihren kleinen Fingerchen.«

      »Gut, dann schick sie morgen zu mir. Brauchst du noch etwas? Ich helfe euch gern, wenn ich kann«, bot Anna ihm an.

      »Nein, du hilfst mir schon damit, wenn du Greta zu dir nimmst. Vielleicht finde ich ja auch Arbeit für Helena. Oder am besten gleich einen Mann. Sie wird bald zwölf, alt genug, um zu heiraten.«

      Anna runzelte die Stirn. Sie war der Meinung, zwölf Jahre alte Mädchen waren noch halbe Kinder und viel zu jung, um verheiratet zu werden. Die meisten Mädchen dieses Alters erlitten Furchtbares in der Hochzeitsnacht. Wurden sie nicht gleich schwanger, was bei den wenigsten der Fall war, hatten sie nahezu jede Nacht ein Martyrium zu erdulden.

      »Ich würde mir das noch mal überlegen, Wigbert«, sagte sie vorsichtig, denn die meisten Männer mochten keine Ratschläge von Frauen. »Schließlich hast du dann keine Frau mehr im Haus. Meinst du, Siegfried übernimmt die Hausarbeit und backt Brot?«

      Dafür erntete sie tatsächlich zustimmendes Kopfnicken. Offenbar hatte Wigbert darüber noch gar nicht nachgedacht. Er hielt ihr die Hand hin.

      »Abgemacht, Greta geht zu dir.«

      Anna nahm die dargebotene Rechte und freute sich, die bildhübsche Helena erst mal vor Schlimmerem als einem Hungerwinter bewahrt zu haben.

      1428

      Heidelberg, Januar

      Kurfürst Ludwig war krank von der Pilgerfahrt ins Heilige Land nach Schloss Heidelberg zurückgekehrt. Auch die Pilgerreise hatte ihm den Schmerz über den frühen Tod seines Sohnes Ruprecht, der aus der ersten Ehe mit Blanca von England stammte, nicht nehmen können. Blanca selbst war viel zu früh mit nur siebzehn Jahren am Wechselfieber verstorben, und Ludwig hatte Ruprecht als seinen Thronfolger angesehen. Nachdem dieser


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