Faszination und Wunder der Technik. Werner Dupont
Anforderungen abgestimmt sind, ergeben vielfältige Vorbilder für die Technik. Dazu kommen ihre bisher nicht oder kaum erreichten Selbstheilungsmöglichkeiten und ihre totale Wiederverwendbarkeit.
Im Rahmen der Werkstoffbionik betrachtet man biologische Materialien, die zu neuen Werkstoffen führen. Hierzu gehören vor allem auch die Mehrkomponentenbauweise biologischer Materialien und Stoffe, in denen beispielsweise zug- und druckfeste Elemente in Trajektorien angeordnet sind. Sie können Vorbilder abgeben, wie überhaupt im makromolekularen und im Mikrobereich eine Vielzahl von Anregungen und Umsetzungsmöglichkeiten gegeben sind.
Unter dem Namen Lotuseffekt entstand eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die im Bereich der Materialwissenschaften auf der Entwicklung superhydrophober biomimetischer Oberflächen fußt. Es war der Botaniker Wilhelm Barthlott, der aus seinen Forschungen zur Rasterelektronenmikroskopie pflanzlicher Oberflächen den selbstreinigenden Effekt von Pflanzenoberflächen feststellte und den Anstoß für die technische Umsetzung gab. Es war in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Botaniker erstmals Interesse an der Lotusblume entwickelten. Am Botanischen Institut der Universität Bonn stellten Wissenschaftler fest, dass gewisse Pflanzenoberflächen wie die der Blätter der indischen Lotusblume von Wasser nicht benetzt werden und darüber hinaus vollkommen schmutzabweisend sind. Dies wird ermöglicht durch eine komplexe Grenzfläche, auf der im Abstand von tausendstel Millimetern warzenartige Erhebungen sitzen, sogenannte Papillen. Die Papillen sind mit winzigen Wachskristallen überzogen. Über diese „raue“ superhydrophobe Oberfläche rollt jeder Wassertropfen ab. Dabei nimmt er nicht nur Schmutzpartikel auf, auch schädliche Pilzsporen, Bakterien und Algen werden mitgerissen. Die Pflanze wird auf diese Weise ihre Plagegeister los und enthält Algen und Pilzsporen die von ihnen zum Überleben benötigte Feuchtigkeit vor. Galten zuvor Produkte mit möglichst glatten Oberflächen als besonders wünschenswert in Sachen Reinlichkeit, so waren es auf einmal solche mit Oberflächen nach dem Vorbild der Mikrostruktur des Lotusblattes. So eroberten in den 90er-Jahren Produkte mit Lotuseffekt den Markt, wie zum Beispiel Dachziegel und Fassadenfarben, die eine Art Pflanzenhaut haben, die sich bei Regen selbst reinigt.
Wie in diesen beiden Beispielen gezeigt, ist es also Forschern bereits gelungen, die raue Mikrostruktur auf künstlichen Oberflächen nachzubilden. Die Resultate kann man käuflich erwerben. Es gibt auch dem Vorbild der Lotusblume nachempfundenes Silikonwachs, das man auf Oberflächen aufsprühen kann, um sie gegen Umwelteinflüsse wie Verschmutzung und Regen zu schützen. Weitere Applikationen zielen auf selbstreinigende Autolacke, die allerdings naturgemäß ein mattes Aussehen zur Folge haben. Gleichermaßen denkbar sind selbstreinigende Fensterscheiben, sodass Wind und Wetter die Rolle eines Fensterputzers übernehmen.
Ein ebenfalls schmutzabweisendes Material, das jedoch nicht auf dem Lotuseffekt basiert, verdankt seine selbstreinigenden Eigenschaften der Photokatalyse, wodurch sowohl Oberflächen als auch die Luft gereinigt werden können. Im speziellen Fall handelt es sich um Titanoxid, das mit Zement vermischt auf dem Markt erhältlich ist. Die physikalische Wirkung des mit Titanoxid versetzten Zements beruht auf dem photoelektrischen Effekt. 1905 publizierte Albert Einstein seine Arbeiten zur Deutung des photoelektrischen Effektes und erhielt für seine Entdeckung des Photoeffektes 1921 den Nobelpreis für Physik. Der Vorgang der Nutzbarmachung des nur quantenmechanisch erklärbaren Effektes beruht auf der Tatsache, dass bei Einfall von Sonnenlicht auf die Titanoxidoberfläche durch die Lichtphotonen in den Atomen der obersten molekularen Schichten Elektronen herausgeschlagen werden. Die Elektronen wandern dann durch das Kristallgitter des Titanoxids zu dessen Grenzfläche. Dort kommt es zu chemischen Umsetzungen, die zur Zersetzung organischer Stoffe führen, was einem Reinigungseffekt gleichkommt. Im Rahmen der Forschungsarbeiten für einen italienischen Zementhersteller entdeckte man, dass die selbstreinigende Wirkung nicht auf Verschmutzungen an der Oberfläche der Bausubstanz beschränkt bleibt. Der photoelektrische Effekt reicht nämlich bis in die angrenzenden Luftschichten und reduziert so auch die Luftverschmutzung. Das Nanomaterial kann auch Mörtel und Farben beigemischt werden. Gebäude und Straßen, die sich sogar nachträglich beschichten lassen, können somit durch Reduzierung der Schadstoffe aktiv zur Umweltentlastung beitragen.
Titanoxid erlaubt auch im Bereich der Photovoltaik für Solarzellen nach dem Vorbild der Photosynthese neue, „natürliche“ Wege. Die Photosynthese ermöglicht als einer der wichtigsten biochemischen Vorgänge auf der Erde den Pflanzen und indirekt auch den Tieren das Leben, da diese die durch die Pflanzen produzierten Stoffe zur Nahrungsaufnahme benötigen. Bei der Photosynthese wird die Energie des Sonnenlichts, also die elektromagnetische Strahlung, mittels des Blattfarbstoffs Chlorophyll aufgenommen und in chemisch gebundene Energie umgewandelt. Die Photosynthese dient der Entwicklung neuartiger Photovoltaikzellen, wie 1994 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne im Labor für Photonik und Schnittstellen von Professor Michael Grätzel geschehen. Grätzels Solarzelle basiert nicht auf Silizium, das sehr teuer, energieaufwendig herzustellen und schwierig zu entsorgen ist, sondern wie das Chlorophyll auf einem Farbstoff, der die Energie der Sonne einfängt. Hierzu dient der einfach und preiswert herzustellende Halbleiter Titanoxid. Eine Belebung der Photovoltaiktechnologie könnte das Resultat sein.
Verweilt man noch ein wenig in der Welt kleiner Dimensionen, so tun sich weitere technische Lösungen gemäß biologischer Vorlagen auf. Die Schuppenstruktur der Haut von Haifischen, die sogenannte Riblet-Struktur, war Ideengeber für reibungsarme Oberflächen. Haie reduzieren den Strömungswiderstand im Wasser durch ihren extrem stromlinienförmigen Körper und durch die Rillenstrukturen auf den Haihautschuppen. Diese feinen Längsriefen verlaufen alle in Strömungsrichtung. Der Zoologe Wolf-Ernst Reif erkannte, je feiner und ausgeprägter die Rillen sind, desto schneller schwimmt der Hai. Die Riefen vermindern offenbar den Strömungswiderstand des Hais, denn durch die Rillen und Rippen auf den Schuppen fließen die Wasserteilchen am umströmten Haikörper entlang. Von Vorteil ist darüber hinaus, dass die Haihautschuppen so angeordnet sind, dass sich die Rillen über die hintereinanderliegenden Schuppen fortsetzen. Entscheidende Wirkung kommt den scharfen und relativ hohen Rillenfirsten zu, die verhindern, dass bremsende Turbulenzen an der Grenzfläche zum umgebenden Wasser entstehen, und verringern so die Reibung an der Oberfläche des Hais. Damit ist letztendlich ein relativ geringer Reibungswiderstand verbunden. Die technische Umsetzung in eine „künstliche Haihaut“ beinhaltet das Aufbringen von Rillen und Rippen auf technische Materialien. Es wurden diesbezügliche Tests an vergrößerten Schuppenmodellen in einem Strömungskanal durchgeführt und festgestellt, dass bei Vorliegen ähnlicher Strömungsverhältnisse die Rillenstrukturen auf Materialien in Wasser und Luft übertragen werden können. Ein derartiges bionisches Produkt sind Riblet-Folien, wie sie beim Siegerboot des 2010 veranstalteten Segelwettbewerbs America’s Cup und bei einem Testflugzeug eines Airbus A 320 mit der erwünschten Treibstoffeinsparung eingesetzt wurden.
Das Gebiet der Materialbionik geriet aufgrund von spektakulären technischen Lösungen der Nanotechnologie, also von der Größe eines millionstel Millimeter und kleiner, in den Fokus des Interesses. Dazu gehört die Klebetechnik, die normalerweise auf die Festigkeit der Klebverbindungen ausgerichtet ist, was auch in der Regel die Rückgängigmachung der Verbindung verhindert. Die Natur lehrt uns aber, dass es sehr wohl stark haftende Verbindungen gibt, die auch reversibel sind. Natürliche Vorbilder sind zum Beispiel Käfer- und Spinnenbeine sowie die Zehen des Geckos. Bei ihnen erzeugen Lamellen im Nanometerbereich eine starke Haftwirkung durch die sogenannten Van-der-Waals-Kräfte, schwache Wechselwirkungen zwischen Atomen und Molekülen. Zur technischen Umsetzung wurde am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz ein Weg zur Herstellung von Nahtmaterial mit nanoskopischen Fibrillen herzustellen, die ein schnelles Haften und Lösen ermöglichen. Über Prototypen wurde die Funktionsfähigkeit des Prinzips nachgewiesen. Erste kommerziell ausgerichtete Resultate sind Haftfolien für Kletterroboter. Inspiriert durch das Gecko-Prinzip reicht das Einsatzpotenzial vom Automobilbau bis zur Medizintechnik. Grundsätzlich erlauben Haftroboter nach entsprechender Adaption und größenbezogener Hochskalierung auch die Inspektion von Aufzugschächten in Hochhäusern und Versorgungsleitungen großer Bauwerke.
Das, was Muscheln ihre große Stärke aufgrund kristalliner Calciumcarbonate hoher Festigkeit und Dichte verleiht, ist ebenfalls dem Erfindungsreichtum der Natur durch ihren intelligenten Einsatz der Nanotechnik geschuldet. Es werden nämlich in diesem Fall bei der Bionanotechnik organische Vorverbindungen eingesetzt. Wie am Weizmann-Institut in der