Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester

Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans - Kim Forester


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das zurückzubringen, was er sich geholt hat. Diese Kelpies und Meermenschen sind nicht ertrunken. Sie sind Gewalt zum Opfer gefallen – und dagegen haben wir keine Magie.«

      Gemeinsam trugen sie Cattails Leichnam zur Totenhöhle. Als sie wieder herauskamen, erblickte Nixi Jenera und Gryce. Erleichtert schwamm sie auf die beiden zu, hielt dann jedoch inne, als sie sah, wer bei ihnen war: May, die freundliche, füllige Meerfrau, die einmal mit Kapitän Dobber verlobt gewesen war. Eine tiefe, hässliche Wunde zog sich über ihre Wange bis hinab zum Hals und ihr Arm hing in einer Seetangschlinge.

      Mit voller Wucht brachen die Schrecken des Tages über Nixi herein. Wie würde es May ergehen, wenn sie herausfand, dass Kapitän Dobber derjenige war, der das Feuer gelegt hatte? Dass er der Grund dafür war, dass die Insel, auf der Nixi und sie als Menschen gelebt hatten, zerstört war? Nixi spürte ein heißes Kribbeln in ihren Augen. Ihre Gang saß jetzt im Gefängnis!

      »Ich muss mal eben … Ich bin gleich wieder zurück«, raunte sie Sorsha zu. Sie versteckte sich hinter einem Felsen und lehnte sich dagegen. Tränen strömten aus ihren Augen und mischten sich mit dem Wasser des Ozeans.

      Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Sie holte ein paar Mal tief Luft und ließ das kühle, erfrischende Wasser durch ihre Kiemen strömen. Erst handeln, dann fühlen – das war früher an Land eines ihrer Mottos gewesen, mit dem sie immer gut gefahren war.

      Hinter dem Felsen, auf der anderen Seite einer flachen Senke im Meeresgrund, tanzte etwas Langes, Dunkles im Wasser. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Aal. War es der Schweif eines Kelpies? Nixi schwamm näher heran. Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, als sie erkannte, dass es sich weder um einen Aal noch um einen Kelpieschweif handelte, sondern um einen langen schwarzen, geflochtenen Zopf.

       Nein. Nein, nein, nein, nein, nein …

      Nixi schwamm höher, um den Körper, der dort unten zwischen den Felsen lag, besser sehen zu können. Den Körper, der weder zu einem Kelpie noch zu einem Meermenschen gehörte.

      Floss’ Augen waren offen und starrten blicklos ins Nichts. Ihr Kopf war seitlich gegen einen Felsen gekippt und ihre Arme und Beine wogten gespenstisch in der Strömung, als wollten sie im Tod die Bewegungen eines lebendigen Körpers nachahmen.

      Ein Schluchzen drang aus Nixis Kehle. Das war zu viel. Sie hatte immer alles getan, was in ihrer Macht stand, um ihre Gang zu beschützen – und ganz besonders Floss. Floss, die niemandem, nicht einmal sich selbst, erlaubt hatte, sie zu bemitleiden. Die Nixi nach ihrer Verwandlung zum Meermenschen als Erste sofort vertraut und sich immer wieder für sie eingesetzt hatte. Deren Lachen so sehr dem von Nixis verstorbener kleiner Schwester glich, dass ihr jedes Mal warm ums Herz geworden war.

      »Nixi?«, fragte eine besorgte Stimme hinter ihr.

      Sorsha kam hinter dem Felsen hervor. Ihre Augen wurden groß, als sie Floss’ Leichnam erblickte. »Oh, Nixi. Das tut mir furchtbar leid. Ist sie ertrunken?«

      Nixi nickte. Wenn sie doch nur da gewesen wäre, um Floss aufzufangen, bevor sie ins Wasser gestürzt war. Wenn sie sich doch nicht noch ein letztes Mal zu den Docks umgedreht hätte. Dann wäre sie bei der Explosion bereits im Wasser gewesen und hätte Floss vielleicht retten können.

      »Es ist noch nicht zu spät«, beteuerte Sorsha. »Wir können sie in einen Meermenschen verwandeln. Aber wir müssen uns beeilen. Damit die Magie wirken kann, dürfen wir nicht zu lange warten.«

      Hoffnung blühte in Nixi auf und brachte ihr Herz zum Klopfen. Sie ergriff Floss’ kalte Hand. Ich habe versprochen, auf dich aufzupassen, sagte sie in Gedanken. Und das war mein voller Ernst.

      Kapitel 7

      Lysander fuhr sachte mit dem Pinsel über die Leinwand, um König Orsinos glänzenden silbergrauen Schweif zu malen. Sein Blick huschte zwischen seinem Gemälde und dem hölzernen Gestell mit dem leblosen Körper des Königs hin und her. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Striche so präzise wie möglich zu setzen, denn das war das Einzige, was ihn davon abhielt, sich zu übergeben.

      Er wünschte, die Wachen würden ihm erlauben, die Türen zu öffnen, um den stickigen, nach Essig stinkenden Mief hier drin zu vertreiben und frische Meeresluft – und Licht! – hereinzulassen. Doch sie hatten darauf bestanden, sie geschlossen zu halten, und nur widerstrebend die Petroleumlampe entzündet, nachdem er ihnen erklärt hatte, dass er nur malen konnte, wenn er etwas sah.

      Beim Anblick von König Orsinos Körper hatte Lysander zuerst nicht gewusst, wie er reagieren sollte. Der leblose König in seiner bestickten purpurnen Weste wurde von dem hölzernen Gestell so aufrecht gehalten, dass es aussah, als könnte er jeden Moment aus dem Krankenzimmer spazieren. Am liebsten hätte Lysander auf dem Huf kehrtgemacht, wäre die Rampen hinuntergaloppiert und hätte durch den gesamten Palast geschrien, dass der König tot war. Doch während der Rest von Corlandia vollkommen ahnungslos war, wusste hier im Palast offenbar jeder Bescheid.

      Also hatte er das Einzige getan, was er in dieser Situation tun konnte: Mit zitternden Fingern hatte er die Staffelei aufgebaut, seine Palette vorbereitet und angefangen, die Grundierung aufzutragen. Lysander hatte sich das Malen und Zeichnen selbst beigebracht, doch er wusste, dass er bei einem Porträt als Erstes die Grundumrisse skizzieren und dann nach und nach die Details hinzufügen musste. Aber dafür hätte er sich den König im Ganzen ansehen müssen und dazu war er noch nicht bereit. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, den Schweif so perfekt wie möglich hinzubekommen.

      In ihm stieg ein beinahe hysterisches Lachen auf. Vielleicht würde es ihm ja weniger ausmachen, Leichen zu malen, wenn sein Vater ihn auf die Kunsthochschule und nicht auf die Hochschule für Philosophie geschickt hätte. Nur wäre es Cassio Diomedes niemals in den Sinn gekommen, seinem einzigen Sohn und Stammeshalter eine Kunstausbildung zu ermöglichen. In seinen Augen war das rausgeworfenes Geld. Lysander biss sich auf die Lippe und schielte zum Tisch hinüber, an dem die zwei Wachen Platz genommen hatten. Einer der beiden war in eine Chronik vertieft, der andere spielte Karten.

      Allerdings war das hier eben keine gewöhnliche Leiche. Sie war ein großes, schreckliches Geheimnis – und wieder einmal war sein Vater irgendwie darin verwickelt.

      Lysander erstarrte, als die Wachen aufstanden und sich leise mit zwei Zentauren draußen vor der Tür unterhielten. Er hörte seinen Namen und dann eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. Es war Rätin Hillira, die Vorsitzende der medizinischen Fakultät. »Lord Cassio denkt aber auch wirklich an alles, was?« Sie klang regelrecht beeindruckt.

      Die zweite Stimme lachte. Bevor Lysander sich überlegen konnte, wie er sich verhalten sollte, trat Rätin Hillira ein. Sie trug eine lange blaue Jacke, die über ihren goldenen Rücken fiel und ihren perlendurchwirkten Schweif teilweise verdeckte. Außerdem hatte sie eine große, mit Stickereien verzierte Tasche dabei. Ratsherr Ripius, ein stämmiger Zentaur mit rötlich grauen Flanken, die farblich zu seiner roten Weste und seinem üppigen Schnurrbart passten, folgte ihr dicht auf den Fersen.

      »Du musst Lysander sein«, sagte Rätin Hillira. Sie musterte ihn von Kopf bis Huf, wobei ihr Blick an seinem zerzausten Haar und den Farbflecken auf seiner Weste hängen blieb. »Wir brauchen nicht lange. Und er wird wesentlich besser aussehen, wenn ich mit ihm fertig bin.«

      Ratsherr Ripius entzündete zwei weitere Petroleumlampen. Eine stellte er auf den Tisch, wo Rätin Hillira gerade ihre Tasche öffnete, die andere hielt er in der Hand, während er das Bett umrundete und König Orsinos Leichnam von allen Seiten kritisch beäugte.

      »Die Wangen brauchen dringend eine Auffrischung.« Er beugte sich vor und betastete das leblose Gesicht des Königs. »Sie fangen an einzufallen.«

      Rätin Hillira lachte. »Das würden deine auch, wenn du seit Monaten tot wärst.«

      Alles an dieser Situation war einfach grauenhaft, doch der heitere Tonfall, in dem sie sprachen, war mit Abstand das Schrecklichste. Lysander tat, als müsse er seine Staffelei


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